: Dortmund, Westfalenhalle
DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH
Wahlkampfauftakt der NRW-SPD. Vor der Westfalenhalle in Dortmund fällt die Hand voll Montagsdemonstranten kaum auf. Über ihnen hängt das Transparent mit dem Schröder-Zitat von l998: „Wenn wir die Arbeitslosenquote nicht spürbar senken, dann haben wir es nicht verdient, wiedergewählt zu werden.“ Eine Frau ruft: „Der soll sich wat schämen, der Schröder, der hat vergessen, wo er herkommt. Jetzt war er sogar beim Papst.“
Niemand bleibt stehen und hört all die Zahlen über die Schere zwischen Reich und Arm, über die Lage der chronisch Kranken, über das Elend der Gesamtschulen und die fällige Vermögensteuer. Jeder kennt sie schon. Neben dem Plakat mit der Aufschrift „Die Zukunft gewinnen, aber das Herz nicht verlieren“ lassen sich Parteigenossen geduldig auf „treibgasbetriebene Fanfaren“ und andere Waffen abtasten. Auf Geheiß der Sicherheitskräfte geben sie leise maulend ihre Windjacken ab.
Das Kulturprogramm läuft schon. Die Kabarettisten von „Geierabend“ biedern sich im Kumpelton an. „Wir im Revier“ erklingt, auf die Melodie von „YMCA“, aber niemand will mitsingen. Schweißüberströmt fetzt Michael Holm noch mal „Mendocino“, da schunkeln einige rote T-Shirts. „Wir sind alle gut drauf“, sagt der Sänger. Bevor dann die Politiker kommen, singt er „Tränen lügen nicht“, das Lied über den „vergoss’nen Wein, den keiner mehr trinkt“.
Das Arbeitsamt in Dortmund steht gleich hinter dem Bahnhof, ist riesengroß und weiß. In den gläsernen Gängen sieht man die Arbeitsuchenden vor den Zimmern ihrer Bearbeiter liegen. An der Post, die sich mit dem Cinemaxx die Querseiten des Platzes teilt, steht ein große Hand aus Bronze, direkt mit dem Fuß verbunden, wie ein Denkmal der mobilen Handarbeit. Auf einem der Findlinge am Parkplatz sitzt eine Frau und weint, den leeren Antrag in der Hand.
Buchhalterin ist sie, aus Halle, hat eine jahrelange Tournee durch die Städte des Ruhrgebiets und den Niedergang einiger Kleinunternehmen hinter sich. Jetzt wohnt sie im Dortmunder Norden, hat eine Schulung „für den Handel“ verordnet bekommen und wartet auf ihren Verlobten, den Lagerarbeiter, der nach sieben Jahren die betriebsbedingte Kündigung kriegte: „Wir sind das typische Hartz-IV-Pärchen.“ Sie würden auch für einen Euro arbeiten, sagen sie, besser als zu Hause sitzen wäre das allemal.
„Ich verspreche keine Arbeitsplätze, aber ich kämpfe jeden Tag dafür“, steht auf den Plakaten mit dem Gesicht von Peer Steinbrück. „Die Fliehkräfte in der Gesellschaft nehmen zu“, sagt er auf der Bühne der Westfalenhalle, aber Gerhard Schröder habe es geleistet, endlich „Ehrlichkeit“ bei den Arbeitslosenzahlen einzuführen; und er „mahnt die Verantwortung der Oberen an“. Der Kanzler verspricht, keine Soldaten in den Irak zu schicken, Erdgas aus Russland zu sichern und „erwartet“, dass die Unternehmer jetzt einstellen. Der Bürgermeister erzählt von den 30 neuen Arbeitsplätzen in der Mikrosystemindustrie und dass es in vier Jahren tausend sein werden. Die Politik könne nur Keimzellen für neue Arbeit schaffen und soziale Hilfestellung leisten. Und Franz Müntefering wirft besorgte Rundumblicke in die Ränge, aber da fordert nur ein einsames Transparent ein „neues Bretton Woods“ und auch das nur für ein paar Minuten. Als „Münte“ spricht, leert sich allmählich der Saal.
Vom Dortmunder Norden war nicht die Rede. In dieser Stadthälfte zwischen Bahnstrecke und den hunderten von Hektaren Brachland, auf denen die Westfalenhütte stand, wo jetzt noch 1.200 von 30.000 Stahlarbeitern beschäftigt sind, arbeiten die letzten Helden der alten Sozialdemokratie. Der Ortsvereinsvorsitzende, der von den Zeiten erzählt, „in denen noch alles beieinander war: die Arbeit, die Kneipen, die Maifeiern, die Streikumzüge“ – die Zahl seiner Mitglieder ist von hundert auf zwanzig geschrumpft, und wenn sie ihre Stände aufbauen, werden sie beschimpft. Der Quartiersmanager, der Bürgertreffen organisiert, mit den Alkoholikern einen Verhaltenskodex aushandelt, mit Anwohnergruppen Spielplätze in Ordnung bringt und die türkischen Kleingewerbetreibenden für den Stadtteil engagiert. Der Gesamtschullehrer, der in seiner zweiten Schicht in der Schule und den Moscheen Sprachkurse einrichtet, für die Kinder, die inzwischen schlechter Deutsch sprechen als ihre Eltern. In hunderten von Gesprächen vollbringt er es, Abgänger auf Arbeitsstellen zu vermitteln. Der Gewerkschafter, der in zäher Kooperation mit dem Arbeitsamt zu verhindern sucht, dass die Eineinhalb-Euro-Jobs noch mehr reguläre, sozialversicherte Stellen zerstören.
„Die Wachstumspolitiker erzählen Träume“, sagen sie, oder: „Es gibt in Deutschland keine Regierung mehr, nur noch Nebenregierungen.“ Sie arbeiten in einer Halbstadt, in der nicht nur Armut sichtbar wird – die ist relativ –, sondern immer mehr das andere, das große Elend: die berufliche Entqualifizierung der Massen und ihrer Kinder. Mit gedämpftem Leuchten im Gesicht erinnern sie sich immer noch an Oswald Nell-Breuning und die Idee der allgemeinen Arbeitszeitverkürzung und fordern die „Schule für alle“. Sie machen weiter, „unter den gegebenen Umständen“, sie sind „manchmal schon ein wenig müde“. Und einer hat geweint, als ich mit ihm sprach.
Krise der Repräsentation, Exklusion – das sind so dramatische Wörter. Von unten gesehen heißen sie, dass von Jahr zu Jahr in den kommunalen Gremien immer mehr Menschen sitzen, die „keine Verbindung zur Arbeit haben“. Dass Wirtschaftsförderer die Zukunftsbranchen und die „Google-Qualifikationen“ finanzieren und die Beschäftigung der „blauen Arbeit“ an die Hartz-Verwaltung delegieren. Dass die Gewerkschaften schon jetzt nicht mehr genug Mitglieder haben, um die Gremien, die noch kürzlich das demokratische Feingewebe der Gesellschaft bildeten, zu besetzen: mit Beisitzern bei Arbeitsgerichten, in Prüfungsausschüssen, Schlichtungsstellen.
„Es werden weniger, bedrohlich weniger“, sagt ein alter Ver.di-Kämpfer, „und nicht nur bei uns, auch in den Wohlfahrtsverbänden, den Kirchen, den Sportvereinen. Die gehen alle in die Mucki-Bude jetzt. Jeder für sich, sogar bei den Wirtschaftsvertretungen.“ Wir stehen vor dem Schaufenster der Büchergilde Gutenberg. Albrecht Müllers Buch über die „Reformlügen“ liegt drin und Oskar Lafontaines „Politik für alle“. Müller will eine Initiative zur Verteidigung des Sozialstaats gründen: „Der steht nämlich im Grundgesetz.“ Lafontaine schreibt, spätestens nach dieser Landtagswahl müsse die SPD klären, ob sie „mit Schröder und seinem neoliberalen Kurs die Bundestagswahl bestreiten will“. Wenn ja, dann „muss eine neue Partei antreten“.
Das sind auch so große Worte; schwerer wiegt das von DGB-Chef Sommer: „Die deutschen Gewerkschaften haben ihren strategischen Partner verloren. Und sie werden ihn auch nicht wiedergewinnen.“ Berlin ist weit von Dortmund, zuckt der Ver.di-Mann die Schulter. Und Dortmund? „Näh, Ghetto wird diese Stadt nicht zulassen. Wir nicht, die Kirchen nicht, die Leute nicht.“