piwik no script img

Dokumentation im Gorki-TheaterAndere Bilder als das Stereotyp

Mehrere Projekte zeichnen den Wittenberger Alltag auf. Eines wird heute im Gorki-Theater vorgestellt.

Für Wittenberge ist es nicht einfach, "Menschen mit unkonventionellen Ideen zu finden", meint Hermann Voesgen. Aber es müsste Möglichkeiten geben, dass Wittenberge das "Image der Verliererstadt loswird", sagt der Professor für Kulturarbeit an der Fachhochschule Potsdam. Die Nähmaschinen zum Beispiel. Sieben Millionen davon wurden in Wittenberge gebaut, von 1904 bis 1992, erst hießen sie Singer, dann Veritas. Der Uhrturm des stillgelegten Werkes ist Wittenberges Wahrzeichen. Veritas heißt Wahrheit. Fast schon zu symbolisch für diese Stadt.

In die Hallen des Werks könnten mit Stipendien Designer gelockt werden. Sie könnten Kleider entwerfen, die dann auf alten Maschinen genäht werden. Das haben Voesgen und seine Kollegen in einem Kulturkonzept vorgeschlagen: "So könnte das Bild der Stadt mit verrückten Elementen versehen werden."

Über das parallel laufende, weitaus größere Forschungsprojekt "Social Capital" war Voesgen informiert. Und hält es für "gute und methodisch saubere Forschung". Deren mediale Aufbereitung aber hat er scharf kritisiert. "Die Bildauswahl ist katastrophal - da wird nur Trostlosigkeit bedient, die Bilder wirken depressiv und zwanghaft."

Die Kritik hat für Verstimmungen gesorgt. Voesgen aber findet, mit Kollegenschelte habe das nichts zu tun. Er betreibt Auftragsforschung für den "Regionalen Wachstumskern Perleberg - Wittenberge - Karstädt", der weit größere Forschungsverbund "Social Capital" bekommt Bundesmittel. Malen deswegen die einen weiß und die anderen schwarz? Eher nicht. Beide Gruppen stellen fest, dass viele in Wittenberge lieber zurück als in die Zukunft schauen. Beide betonen auch, wie viele Menschen hier aktiv sind, ohne aufzufallen.

Der Künstler Andreas Kebelmann schwärmt indes von der Aufgeschlossenheit der Wittenberger, von der "Offenheit für unsere Idee". Kebelmann ist ein Teil der Agentur Kriwomasow. Auch diese Künstlergruppe arbeitet mit den Sozialwissenschaftlern zusammen. Sie erstellen ein "Archiv des Umbruchs", das in Filmen und Interviews die Gegenwart in Wittenberge festhalten soll. Sie haben mit Näherinnen und Bahnwerkern gesprochen, mit Kleingärtnern und Kapitänen. Das Geheimnis ihrer vertrauensvollen Recherche: "Profis treffen auf Profis", wie Kebelmann sagt, in gegenseitigem Respekt. "In der Einsicht, dass wir Laien in dem jeweils anderen Punkt sind." Sie haben nicht nur geredet: Die Näherinnen haben ein Zelt für die Kita gemacht, die Kleingärtner Getreide angebaut, die Eisenbahner ihre Erfahrungen für den Unterricht am Gymnasium gesammelt.

Andreas Kebelmann möchte nur über seine Arbeit reden, nicht über den Aufruhr, den Forscher und Medien in Wittenberge verursacht haben. Und dennoch hat er ganz viel damit zu tun. Das "Archiv des Umbruchs" ist ein Gegenbeweis: Hier gab es Wertschätzung, Solidarität und Selbstbewusstsein. Und viele verschiedene Blicke auf Wittenberge.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!