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■ Dokumentation eines Funkgespräches mit dem Oberbürgermeister von Goražde, Ismet Briga„Das ist unsere Stadt, nie werden wir sie den Serben übergeben“

In der gestrigen taz waren auf der Titelseite mehrere O-Töne von Amateurfunkern aus der ostbosnischen Enklave Goražde dokumentiert. Im Laufe des Donnerstagnachmittags gelang es unserer Redaktion durch Vermittlung des ORF-Redakteurs Werner Herics, einen Funkkontakt zum Bürgermeister der von Serben umzingelten und unter massivem Beschuß liegenden Stadt herzustellen. Herics stellte Bürgermeister Ismet Briga die von uns formulierten Fragen. Die Übersetzung stammt auch von Herics.

Ismet Briga hatte am Mittwoch abend folgende Erklärung abgegeben: „Wir bitten Herrn Bill Clinton, Herrn Manfred Wörner, den Befehl zu geben, die Stadt Goražde zu bombardieren, um die qualvolle Agonie, in der wir uns befinden, endlich zu beenden. Wenn Sie uns schon nicht beschützen wollen, bitten wir um einen schnellen und würdevollen Tod, den wir uns mittlerweile sehnlichst wünschen.“

taz: Sie haben an die Nato appelliert, Ihre Stadt zu bombardieren, um die Agonie zu beenden. Haben Sie Goražde aufgegeben?

Ismet Briga: Es stimmt, daß ich am Mittwoch, dem 20. April, Herrn Clinton informiert habe, daß die Nato die Stadt bombardieren solle. Das war nicht nur meine Entscheidung. Schon einige Tage lang kommen meine Mitbürger zu mir und bitten mich, daß ich so eine Bitte auch öffentlich vortrage. Ich habe mehrmals gesagt, daß in Goražde ein Massenmord an der Zivilbevölkerung geschieht. Wenn nur fünfzig Prozent der Flugzeuge eingesetzt werden, die den Irak angegriffen haben, würden sie uns das Leiden verkürzen. Wir werden ihnen das verzeihen. Es sieht so aus, daß dies die einzige Möglichkeit ist, die Qualen dieses Volkes zu verkürzen.

Vom militärischen Standpunkt aus gesehen, müßten wir uns ergeben. Wir werden das aber nicht tun. Wir werden bis zum letzten Mann kämpfen. Dies ist ein stolzes Volk. Die Serben werden Goražde lange in Erinnerung behalten!

Wie ist die Lage in Goražde heute?

Es fehlen mir die Worte, um die Situation in der Stadt zu beschreiben. Trümmer, Blut, Explosionen, Tote und Verletzte auf den Straßen, das Weinen und Schreien von Frauen und Kindern und bange Blicke gen Himmel. Die Versorgungssituation ist katastrophal. Wir haben kein Wasser mehr. Die Serben haben die einzige Quelle eingenommen. Die Lebensmittelvorräte sind fast aufgebraucht, das Wenige, das unsere Leute hatten, ist jetzt in die Hände der Tschetniks gefallen. Aber ans Essen denken wir gar nicht, es geht uns nur ums nackte Überleben. Das ist Goražde heute: Hölle und Chaos...

Seit einigen Tagen melden die Medien, Goražde stehe kurz vor dem Fall. Wie ist es möglich, daß Sie sich bis heute verteidigen konnten?

Ich habe schon gesagt, hier leben stolze Menschen. Goražde ist die erste freie Stadt seit dem Beginn der Kämpfe in Bosnien und der serbischen Okkupation. Aufrechterhalten hat uns der Wille zum Leben und die Entschlossenheit des Volkes, seine Freiheit zu verteidigen.

Vorgestern (Mittwoch) haben die Nato-Außenminister mitgeteilt, daß sie eine Entscheidung über Luftangriffe zum Schutz Goraždes frühestens in einigen Tagen treffen wollen. Haben Sie soviel Zeit und können Sie diese Haltung verstehen?

Die Haltung der UNO ist uns nicht klar. Es werden Deklarationen verabschiedet, die die Serben nicht einhalten. Die hält nicht einmal die UNO ein! Und dabei ist das hier eine Schutzzone! Sie sollen sich doch an die eigenen Beschlüsse halten.

Der amerikanische Präsident Clinton sagte am Donnerstag, die Angriffe auf Goražde seien möglicherweise der Beginn einer Offensive auf die UN-Schutzzonen in Ost- und Westbosnien (Srebrenica, Zepa, Bihac). Glauben Sie, daß der Fall Goraždes für die Nato und die Serben der Preis ist, um eine endgültige Regelung des Bosnienkonflikts erst möglich zu machen.

Man kann die Dinge so nicht sehen. Es gibt keine Alternative zu unserer Freiheit. Eine Übergabe Goraždes an die Serben kommt nicht in Frage! Wir werden bis zum letzten Mann kämpfen. Unser Kampf ist Vorbild für die Verteidiger von Srebrenica, Zepa, Bihac, wie man seine Heimat verteidigt. Besser der Tod als die Greuel der Tschetniks!

Welche Situation erwarten Sie für Goražde, sollten die Serben einmarschieren?

Die Serben sind schon an den Stadttoren. Weil wir nicht genügend panzerbrechende Waffen haben, kommen sie systematisch mit den Panzern in die Stadt hinein. Sie zerstören ein Haus nach dem anderen, dann ziehen sie sich zurück, um neue Granaten zu holen. In der Stadt dürfen sie nicht bleiben. Hier leben über 60.000 Menschen; Frauen und Kinder. Die Serben dürfen aus den Panzern nicht herauskommen. Sie können sich vorstellen, was hier passieren wird, wenn die Stadt eingenommen wird. Sie benehmen sich nicht wie Feinde im klassischen Sinne. Sie wollen uns vollkommen vernichten. Frauen, Kinder, Alte und Gebrechliche. Gestern haben sie im Krankenhaus 28 Verletzte getötet. Insgesamt starben gestern an die hundert Menschen, verletzt wurden über 260.

Ist die Übergabe der Stadt an die Belagerer eine mögliche Perspektive?

Ich glaube, diese Frage habe ich schon beantwortet. Das ist unsere Stadt!

Die UNO hat am Donnerstag rund 100 Blauhelme und 41 Sanitäter von Sarajevo aus nach Goražde geschickt. Was erwarten Sie von der UNO?

Wir haben vom Versuch gehört, daß Mitglieder der UNO nach Goražde kommen sollen. Aber sie wurden von Frauen in Rogatica aufgehalten! Was für eine Schande! Ich bin nicht sicher, daß die Serben stehenbleiben werden. In Goražde gibt es Angehörige der UNO, des UNHCR und anderer internationaler Organisationen. Ihre Gebäude wurden bereits mehrmals getroffen.

Ich glaube, daß man auf Gewalt mit Gewalt antworten muß. Sie verstehen keine andere „Sprache“. Die Fragen formulierten:

Rüdiger Rossig und Dieter Rulff

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