■ Dokumentation eines Entwurfs für den Seeheimer Kreis zur Außen-, Europa- und Sicherheitspolitik der SPD: Alles „Kleinkram“?
Der als rechts titulierte Seeheimer Kreis sorgt in der SPD für Debatten. Der hier dokumentierten Zusammenfassung eines Entwurfs für eine „Seeheimer Plattform“ liegt die Annahme zugrunde, der SPD fehle eine der Entspannungspolitik vergleichbare kohärente Konzeption von Außen- und Sicherheitspolitik. Selbst im 100-Tage-Programm der SPD sei dazu „nicht ein Wort (!)“ zu finden gewesen. Scharping meinte vorgestern bei der Klausur der bayrischen SPD, Hauptaufgabe seiner Partei sei die Modernisierung des „Wirtschafts- und Lebensraumes“ Deutschland, nicht „dieser ganze feinziselierte außenpolitische Kleinkram“.
I. Zur Lage der Partei in der Außen-, Europa- und Sicherheitspolitik
1. An der Parteibasis ist seit den Zeiten des Nato-Doppelbeschlusses über Außen- und Sicherheitspolitik nicht mehr diskutiert worden. Es fehlt der Partei eine außenpolitische Diskurskultur.
2. Dies hat mehrere Gründe: Außenpolitische Nischenmentalität, eine mehrheitlich eher linkstraditionell orientierte Funktionärselite und eine politische Führung, der das Denken in außenpolitischen Kategorien abhanden kam.
3. Kapazitäten sind gemessen an den gegenwärtigen und zukünftigen außen-, europa- und sicherheitspolitischen Erfordernissen viel zu gering und teilweise nicht vom Fach. Die Kontaktpflege zu Forschern und Experten läßt zu wünschen übrig.
4. Der linke Parteiflügel hat in der Vergangenheit die Erneuerung der SPD zu einer außen-, europa- und sicherheitspolitisch regierungsfähigen Partei allzu häufig zu verhindern gesucht. Ein Ergebnis war der unnötige innerparteiliche Streit um die Verfassungsmäßigkeit von Out-of-area-Einsätzen der Bundeswehr. Dieser Konflikt hat gerade in einer Zeit Ressourcen gebunden, Diskussionsblockaden verursacht und damit dringend erforderliche inhaltliche Innovationen verhindert, als der programmatische Bewältigungs- und Veränderungsbedarf der SPD am größten war.
5. In der aktuellen Auseinandersetzung in der Tornado-Frage ist durch Uneinigkeit und Dilettantismus in Partei und Fraktion bereits heute vermeidbarer politischer Schaden entstanden, im In- wie im Ausland.
6. Die Nato-Anfrage hat gezeigt, daß die SPD die Fähigkeit zur Regierung in der Außen- und Sicherheitspolitik derzeit noch nicht hat.
7. Außenpolitische Kompetenz auch in der öffentlichen Wahrnehmung wird der SPD jedoch dann zuerkannt werden, wenn sie durch eigene richtungsweisende Beiträge die Meinungsführerschaft im außen-, europa- und sicherheitspolitischen Diskurs wiedererlangt.
II. Unsere Forderungen an programmatische Erneue- rungen in der Außen- und Sicherheitspolitik
1. Es gilt im Grundsatz Abschied zu nehmen vom linkstraditionellen Paradigma internationaler Politik („proletarischer bzw. sozialistischer Internationalismus“) zugunsten des Paradigmas des liberal-demokratischen Universalismus.
2. Kritik und Vorschläge im Detail:
Bündnispolitik
1. Die im Programm geforderte „Vernetzung“, gar „Verflechtung“ von Nato, WEU und KSZE zu einem „gesamteuropäischen Sicherheitsraum“ ist ein typischer Formelkompromiß und ein ideelles Konstrukt ohne Realitätsbezug. Dahinter lugt kaum verhüllt der altlinke Traum von der Auflösung der Nato.
2. Die SPD sollte statt dessen ihre Überlegungen auf Reformschritte für die Nato, WEU und OSZE als arbeitsteilige Institutionen konzentrieren, als sich der Kultivierung programmatischer Altlasten hinzugeben.
3. Die Beteiligung der Bundeswehr an UN-mandatierten Einsätzen von Nato-Verbänden außerhalb des Vertragsgebiets des Atlantischen Bündnisses gehört zu den grundsätzlichen Pflichten der Bundesrepublik Deutschland als Mitglied der Nato und der Vereinten Nationen.
4. Daraus folgt für die aktuelle Auseinandersetzung: Sollte der Einsatz deutscher Tornados in Bosnien zum Schutz von Hilfslieferungen oder zur Flankierung eines Abzugs von UN-Blauhelmsoldaten notwendig werden, so ist dem aus Gründen der Bündnissolidarität und der grunsätzlichen Beteiligungspflicht an einer UN-mandatierten Mission zuzustimmen. Eine Ablehnung mit dem Verweis auf die deutsche Geschichte wäre Flucht vor der Verantwortung. Die kriegführenden bosnischen Serben sind Kriegsverbrecher und Völkermörder. Sie haben das Recht verwirkt, die deutsche Geschichte für ihren Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug gegen Bosnien zu instrumentalisieren.
5. Eine Erweiterung der westlichen Allianz für neue Mitglieder ist zu befürworten. Einer vollen Nato-Mitgliedschaft sollte allerdings die Mitgliedschaft in der EU vorausgehen.
Europapolitik
1. Für Sozialdemokraten ist das Ziel ihrer Europapolitik ein moderner, föderal und nach dem Subsidiaritätsprinzip aufgebauter europäischer Bundesstaat.
2. Die Idee eines Europas mehrerer Kerne ist von unserer Partei vorschnell abgeurteilt worden. Wir plädieren dafür, den Grundgedanken eines „Europas mehrerer funktionaler Kerne“ in der europapolitischen Diskussion fortzuentwickeln.
3. Die politische Aufnahmefähigkeit der EU in ihrem jetzigen Zustand ist erschöpft.
4. Aufgabe der Revisionskonferenz im Jahre 1996 muß es sein, die EU institutionell zu vertiefen und die Politik der Mehrheitsentscheidung fortzusetzen. Wenn dies gelingt, gibt es neue Spielräume für weitere Mitgliedschaften. Es müssen klare Kriterien gefunden werden, wie weit die Aufnahmefähigkeit der EU in Zukunft gehen soll, ohne den Prozeß weiterer Vertiefung der EU zu gefährden.
Politik in Systemen kooperativer Sicherheit (OSZE, UNO)
1. Das politische Paradigma der „kollektiven Sicherheit“ sollte durch das der „kooperativen Sicherheit“ ersetzt werden.
2. Die Völker- und Staatengemeinschaft erwartet zivile, aber auch militärische Beiträge der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen
– der „friedlichen Beilegung von Konflikten“ (Kapitel VI, UN- Charta)
– von „Blauhelm“-Missionen der UNO
– militärischer Erzwingungsmaßnahmen nach Kapitel VII, UN- Charta.
Hierzu ist die Bundesrepublik im Grundsatz verpflichtet.
Bundeswehr
Der Slogan einer „frei verfügbaren Interventionsarmee“ aus dem Bundestagsprogramm ist nicht mehr als eine unbewiesene Phrase der Parteilinken. Eine programmatische Revision ist unabweisbar.
3. Um die außen-, europa- und sicherheitspolitische Diskussion zu beleben, schlagen wir die Einrichtung eines außen-, europa- und sicherheitspolitischen Rates der SPD vor (analog zu Scharpings Idee eines Wirtschaftsrates).
Dieter Schloten (MdB, Auswärtiger Ausschuß), Wolfgang Bruckmann; außenpol. Experten des Seeheimer Kreises
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