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■ Dokumentation: Grüne Thesen zum Umgang mit der PDS Für einen reformpolitischen Neuanfang in BerlinDie PDS in die Regierung!

1. Die große Koalition muß weg – so schnell wie möglich!

Berlin erlebt einen krisenhaften Umbruchprozeß. In den vergangenen vier Jahren ging fast die Hälfte der industriellen Arbeitsplätze verloren. Rund 30 Prozent der Arbeitsfähigen sind unterbeschäftigt oder haben überhaupt keine Arbeit. Immer mehr Menschen werden durch Armut vom „normalen gesellschaftlichen Leben“ ausgeschlossen oder sind vom Ausschluß bedroht. [...]

Die große Koalition muß weg – so schnell wie möglich. Weitere fünf oder zehn Jahre sind unzumutbar. Da rot-grüne Mehrheiten nicht in Sicht sind, bedeutet das: Wir müssen über irgendeine Form der Regierungszusammenarbeit mit der PDS nachdenken.

2. Sozialpsychologischer Ostlobbyismus und Milieuschutz für Stasi, NVA und SED-Strukturen – das spezifische Politikangebot der PDS

Die Europawahl hat es noch einmal bestätigt: In Berlin existiert eine überwältigende Mehrheit für einen politischen Wechsel. SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und PDS haben zusammen mehr Stimmen als die jetzige große Koalition. Der PDS ist es gelungen, sich als einzig authentischer „Ostlobbyist“ zu profilieren. Sie verbindet damit einer Rehabilitierung alter NVA-, Stasi- und SED-Milieus. Das macht die Situation für uns so unangenehm. Dadurch entsteht das Problem, daß das eine offenbar nicht mehr ohne das andere zu haben ist.

Wir sind an dieser Entwicklung nicht schuldlos. In den neuen Bundesländern haben wir uns zu lange auf eine Politik des guten Gewissens und des moralischen Zeigefingers beschränkt. Die Westgrünen verstanden überhaupt nicht, um was es ging, weil ihnen als selbstverständlich galt, was jetzt dem Osten übergestülpt wurde. Viele bekannte Köpfe der Bürgerbewegung verarbeiteten ihre Enttäuschung über den eigenen Bedeutungsverlust dagegen durch „Identifizierung mit dem Aggressor“. Aus Bürgerbewegten wurden Bürgerrechtler.

Während die im Herbst '89 auf der Straße marschierenden Menschen in die Schmuddelkiste ethisch unsauberer Konsumfetischisten- oder realitätsblinder Linkssektierer verbannt wurden, ließen sie sich selbst zu moralpolitischen Ikonen stilisieren, die jenseits aller politischen Alltags- und Interessenskämpfe für die „ewig richtigen“ Prinzipien stehen. So entstand bei vielen Menschen in den neuen Ländern der Eindruck, daß es sich bei Bündnis 90/ Die Grünen um eine Art fünfte Kolonne der neuen Kolonialmächte handelt.

Wer sich dagegen mit dem alltäglichen Kulturkolonialismus der Wessis und mit der pauschalen Entwertung seines bisherigen Lebens nicht abfinden wollte, der schien nur eine Alternative zu haben: die Rückkehr zu denjenigen, die sich vor dem Herbst '89 nur weggeduckt hatten und jetzt den alten Mief nostalgisch verklären. Daß die andere Alternative, die Rückbesinnung auf den radikalen Kern der Bürgerbewegung, keine Rolle mehr spielt, haben wir uns selbst zuzuschreiben, weil die Geringschätzung aller wiedervereinigungs- und westkritischen Töne innerhalb der Bürgerbewegung auch bei uns zur offiziellen Parteilinie wurde. Weil den Bürgern der neuen Länder die Chance genommen wurde, ihre alten Milieus und hergebrachten Strukturen wechselseitiger Anerkennung, Respektierung und Wertschätzung selber schrittweise zu transformieren, hatten und haben sie nur wenig Chancen, unter den veränderten Bedingungen eine neue eigene Identität auszubilden. Sie sahen sich deshalb gezwungen, den vorgegebenen Identitätsmustern zu folgen. CDU und PDS waren die Parteien, die diesen Bedürfnissen am ehesten gerecht wurden, indem sie eine „Identitätsstiftung von oben“ anboten. [..]

Die PDS bloß mit Stasimief zu identifizieren, ist zu einfach. Sie vereinigt ganz verschiedene politische Kulturen – darunter auch solche, von deren Offenheit, Radikalität und emanzipatorischen Erneuerungswillen wir durchaus auch lernen können. Wir müssen die PDS als Gegner ernst nehmen, dürfen sie nicht tabuisieren und müssen aufpassen, daß sie uns die Rolle der Oppositions- und Antipartei nicht dadurch streitig macht, daß wir uns immer mehr auf staatstragend-vernünftelnde Symbolpolitik beschränken, während sie die Verwirklichung unserer Programmatik einklagt.

3. Die Tolerierung durch die PDS ist keine Lösung

Auch wenn wir in Zukunft geschickter vorgehen: Mit der PDS werden wir leben müssen. [...] Ohne sie wird es keine Alternative zur großen Koalition geben. Deshalb führt kein Weg daran vorbei: Wir müssen uns auf irgendeine Form der Zusammenarbeit einlassen. Seit kurzem gibt es dafür in Magdeburg ein konkretes Beispiel. Die FreundInnen aus Sachsen-Anhalt haben den ersten Schritt getan. Dafür müssen wir ihnen dankbar sein. Die dort mit guten Gründen gewählte Form der Tolerierung kann für uns jedoch kein Vorbild sein. [...] 1989 haben wir das selbst erlebt. Nach der Kommunalwahl in Ost-Berlin bildete sich dort eine große Koalition aus SPD und CDU. Von einem Tag auf den anderen war die AL nur noch fünftes Rad am Wagen. [...]

Jede Tolerierung durch die PDS erzeugt die für uns fatale Optik, als seien wir nun endgültig ein Teil des etablierten Altparteienblocks geworden, während die PDS alle aufrechten Oppositionellen um sich schart. Nachdem sie schon große Teile unserer Programmatik abgeschrieben hat, käme sie jetzt noch in die vorteilhafte Situation, die konsequente Umsetzung unseres Programms gegen uns selbst einklagen zu können. [...]

Die Tolerierung ist in Berlin kein gangbarer Weg. Wir müssen in den sauren Apfel beißen und von der PDS den Eintritt in die Regierung verlangen. Wir sollten dieses Angebot mit einer Reihe von Bedingungen verknüpfen, die die PDS ins Schwitzen bringen. Dann ist Schluß mit dem beliebigen Nebeneinander von Stasi-Milieupflege und radikaldemokratischem Gestus, von traditionellem Industrialismus und wohlfeilen Ökoforderungen oder von radikaloppositionellen Parolen und opportunistischem Sozialdemokratismus. [...]

4. Koalition mit der PDS – aber ohne Milieuschutz für Stasi, NVA und SED-Strukturen

Eine Koalition mit der PDS darf nicht länger tabu sein. [...] Die Oppositionsbewegung der Ex-DDR ist und bleibt unser zentraler politischer und personeller Bezugspunkt. Deshalb kommt alles darauf an, daß wir an eine Regierungsarbeit mit der PDS von vornherein klare Bedingungen stellen.[...] Der Streit über die Eindeutigkeit und Radikalität des Bruches mit den alten Repressionsstrukturen gehört nicht in die Grünen, sondern ist ein inneres Problem der PDS. Unsere Koalitionsbedingungen sollten das von vornherein klarstellen. [...]

Wir stellen uns vor, daß die Aufarbeitung u.a. im Rahmen einer Forschungsstiftung des Landes Berlin erfolgen könnte. [...] Gleichzeitig müssen aber auch die Täter politisch-moralisch und wo möglich auch juristisch zur Rechenschaft gezogen werden. Dabei ist wichtig, daß die jetzt z.B. bei der Gauck-Behörde oder bei der Bundesanwaltschaft unübersehbare politische Einäugigkeit vermieden wird. Sog. Blockflöten müssen nach den gleichen Kriterien beurteilt werden, wie SPD- und PDS- Politiker. Gleichzeitig muß vermieden werden, daß die persönliche Bewertung sich zu sehr an formal justiziablen Kriterien wie z.B. den Verpflichtungserklärungen orientiert, während die kontextabhängige moralisch-politische Bewertung auf der Strecke bleibt. Darüber hinaus ist die moralische und soweit möglich auch materielle-lebenspraktische Rehabilitierung der Opfer wichtig. [...]

Eine derartige Koalition setzt innerhalb der PDS Ausdifferenzierungsprozesse in Gang. Der Gestaltungswille der reformorientierten Kräfte gerät in Gegensatz zur Milieuschutzpolitik der Altkader. Die „Schutzgemeinschaft der bewaffneten Organe“ könnte sich nicht länger hinter Gysi und Co. verstecken. Vielleicht bringt eine derartige Koalition frischen Wind auch in die miefigsten Ecken unserer politischen Landschaft. [...]

5. Die Grünen – das Zentrum eines neuen reformpolitischen Anfangs!

Ein rosa-rot-grünes Reformprojekt für Berlin bietet neue Chancen. Bündnis 90/ Die Grünen sind plötzlich nicht mehr nur der Juniorpartner einer großen Reformpartei. Sie werden stattdessen zum neuen Zentrum des Bündnisses. Dadurch bekommen sie die Chance, die qualitative Ausgestaltung der gemeinsamen Schnittmenge entscheidend zu prägen und damit die grundsätzliche Ausrichtung des ganzen Projektes zu bestimmen. Schnittmenge zwischen den drei Partnern ist der Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit. Sollte es der neuen Reformkoalition gelingen, zur Verringerung der Massenarbeitslosigkeit und all ihrer Folgeprobleme beizutragen, hat sie politisch gewonnen und wird eine dauerhafte Reformmehrheit begründen. [...] Willi Brüggen, Jochen Esser,

Andreas Schulze

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