Doku über Straight-Edge-Bewegung: Die moralischen Rock'n'Roller
Bewusste Außenseiter: In der Hardcore-Spielart Straight Edge sind radikale Abstinenz und sexuelle Enthaltsamkeit ein Muss. Doch ihre Rede von "Volksgesundheit" ist unheimlich.
Zwei Songs, eigentlich nur kurze Textpassagen aus Anfang der Achtziger entstandenen Punksongs, bilden das Fundament des bis heute wohl lustfeindlichsten aller Jugendkulte. In dem einen Song mit dem wegweisenden Titel "Straight Edge" heißt es: "Ich habe Besseres zu tun, als mich vollzudröhnen." Und im anderen, "Out Of Step", wird das bis heute gültige Regelwerk, die Philosophie von Straight Edge definiert: "Dont smoke / Don't drink / Dont fuck / At least I can fucking think." Keine Drogen, kein unkontrollierter Sex, nur ein klarer Kopf.
Dieser Dreisatz prägt bis heute den Lifestyle der Hardcore-Subszene Straight Edge. Texter der einflussreichen Zeilen war der US-Amerikaner Ian McKaye. Seine Band hieß in den frühen Achtzigern Minor Threat und gilt bis heute als wichtigste Hardcore-Band überhaupt. Eine ungemein dynamische Punkszene in Washington, D.C., begann damit.
Dubiose Adepten und ihr "Reinheitsgebot"
McKaye hat längst die Kontrolle darüber verloren, wer sich auf seine Texte beruft und in welcher Form. Eher unfreiwillig wird er auch heute noch in die Rolle des Straight-Edge-Denkers mit Vorbildfunktion gedrängt. In der eben auf DVD erschienen Dokumentation "Edge" erklärt der sichtlich genervte Musiker, der auf die 50 zugeht: "Erst gestern hat mich ein Teenager gefragt, ob ich noch Straight Edge bin. Ich werde noch verrückt."
Dass aus dem lakonischen Antidrogenbekenntnis eines Jugendlichen, dessen Vater Alkoholiker war, eine stahlharte Abstinenzlerbewegung wie Straight Edge samt kurioser Entwicklungen werden konnte, war 1981 nicht abzusehen. Aus der schlichten Einschätzung McKayes vor 30 Jahren, ohne Drogen die Dinge klarer zu sehen, wurde von dubiosen Adepten längst ein diffuses "Reinheitsgebot" destilliert, das nicht mehr nur auf den eigenen Körper, sondern im Extremfall auf den "Volkskörper" angewandt wird. Ein wilder Mix aus Schwulenhass, militantem Tierschutz, Abtreibungsgegnerschaft und krudem Antisemitismus hat sich rund um bizarr anmutende Auslegungen entwickelt.
Auch ultrarechte Straight Edger sind inzwischen auf den Plan getreten, die sich, wie die sogenannten "autonomen Nationalisten", die Codes einer ursprünglich dezidiert linken Jugendbewegung angeeignet haben und im Sinne der eigenen Ideologie missbrauchen.
MacKayes Bekenntnis, drogenfrei zu leben, stehen inzwischen Begriffe wie "Volksgesundheit" gegenüber. Dabei ging es nach dem kommerziellen Niedergang von Punk Ende der Siebziger nur darum, die Musik wieder mit sinnvollen Inhalten zu füllen. Die eigene Anti-Drogen-Position wurde als Ablehnung einer destruktiven Gesellschaft in Stellung gebracht, in der Drogenkonsum mainstreamkompatibel wurde.
Ein Film aus der Hochburg von Straight Edge, Münster
Der Dokumentarfilm "Edge" versucht, die historische Folgerichtigkeit der Abstinenz zu erklären und prüft, wie und wo von einer etwas in die Jahre gekommenen Subkultur heute noch Impulse ausgehen. Die Filmemacher, selbst überzeugte Straight-Edger, kommen aus Münster, einer Hochburg von Straight Edge. Ihr Film wird schon seit Längerem in der Szene diskutiert.
Auch Christian Coslar, Jan Edcke und Sebastian Stronzik haben ihn bereits gesehen. Die drei sind Mitte 30 und seit ihrer Teenagerzeit straight edge. In der Szene gibt es zwar das Beschwören eines "lifelong commitment", doch man wird eben auch älter, kann mit Abstinenz nichts mehr anfangen. Nicht so die drei. Vegan leben sie sowieso, deswegen essen wir auch in Berlin-Friedrichshain in einem Bistro Tofuburger mit Pommes.
Veganismus kam Ende der Achtziger, mit der zweiten Welle von Straight-Edge-Bands rund um Youth of Today aus New York hinzu. Schon 20 Jahre vor Jonathan Safran Foer und seinem Bestseller "Tiere essen" problematisierten sie Fleischkonsum und Massentierhaltung. Inzwischen ist das Thema Veganismus ebenso eng verbunden mit Straight Edge wie der Verzicht auf Drogen.
Veganismus plus Hardcore macht mehr aus dir
"Straight Edge ist unmittelbar mit der Musikszene verbunden, mit Minor Threat und ähnlichen Bands", erklärt Christian. Ohne Hardcore wäre man nur Veganer, in Verbindung mit Hardcore ist man Straight Edger. Und, so Jan: "Straight Edge funktioniert nur durch Abgrenzung." Sebastian, ganz hardcoremäßig bis zum Hals tätowiert, erklärt seine Motivation, straight edge zu werden dann auch so: "Ich wollte nicht so sein, wie alle um mich herum." Das Umfeld von Sebastian, der auf dem Dorf aufgewachsen ist, ergab sich vollständig dem Zapfhahn.
Auf YouTube findet man zahllose Clips aus RTL2-Reportagen, die zuerst Bilder von kahlrasierten Typen zeigen, die infernalischen Lärm veranstalten oder enthemmt auf Konzerten herumhüpfen. Dann heißt es, mit einem sensationsheischenden Schaudern: "Sie trinken nicht, rauchen nicht, nehmen keine Drogen und behaupten, ihre Beischlafpartner nicht zu betrügen." Eine ZDF-Reportage über Straight Edge im Morgenmagazin wurde sogar "passend zur Fastenzeit" versendet.
Straight-Edger sind extrem körperlich und bilden eher eine Machokultur, "die für Frauen nicht so attraktiv ist", wie Jan zugibt. Denn "du sagst ,Fuck you!' zum Establishment, aber dazu musst du erst mal zum Establishment gehören". Doch ausgerechnet diese "Fuck you!"-Typen leben gesünder als das Gesundheitsministerium empfiehlt und so verantwortungsbewusst gegenüber sich selbst und anderen, als wollten sie den Preis "bester Schwiegersohn der Welt" (RTL-Zitat) gewinnen?
Christian sieht das mit dem Schwiegersohn-Image pragmatisch: "Schwiegersohn ist der Edger eben nicht. Ein perfekter Schwiegersohn würde eher mal schön einen Saufen mit dem Schwiegerpapa." Straight Edge war und ist eine - so gewollte - extreme Außenseiterkultur.
Drogen sind ein Dauerthema des Pop. Vom Speed der Mods bis zum Ecstasy im Techno, es wimmelt nur so vor Betäubungsmitteln - klar, dass Straight Edge in diesem Zusammenhang wie eine Spielverderberkultur wahrgenommen wird. Straight-Edger gelten als Moralapostel, Spaßbremsen und Wertkonservative, die Taliban unter den Jugendkulturen.
In der Doku "Edge" weisen vor allem die Veteranen darauf hin, dass wirklich einiges schiefgelaufen ist mit ihrer Bewegung. Als angefangen wurde, andere Edger zu bespitzeln, ob sie sich nicht doch heimlich einen hinter die Binde gießen. Immer elitärer sei die Szene geworden, heißt es da. Trotzdem wird das Positive an Straight Edge betont. Dass es in dieser Szene eben nicht darum geht, sich selbst zu zerstören, wie einst Sid Vicious, dafür steht das Straight-Edge-Subgenre "Posi-Core". Tatsächlich geht es darum, etwas aus seinem Leben zu machen. Das mag nach Dale Carnegie klingen, aber was so glamourös daran sein soll, Alkoholiker oder Junkie zu sein, ist auch nur schwer nachzuvollziehen.
Zersplittert in zig Subkulturen
Straight Edge ist heute keine kohärente Bewegung mehr und hat sich in zig Subkulturen zersplittert. Am Ende von "Edge" sieht man einen Auftritt der jungen US-Band Have Heart, bei deren Konzert die Fans herumspringen, als wäre es wieder 1988. Doch in Wahrheit gibt es nicht mehr viele Bands wie Have Heart, die großen Zeiten der Bewegung sind vorbei.
Auch Christian, Jan und Sebastian betonen ausdrücklich, dass sie ausschließlich aufgrund persönlicher Entscheidungen immer noch straight edge sind und auf keinen Fall Teil eines Kulturkampfes sein möchten. Trotzdem könnte man sich gerade im Zuge der neu entfachten Debatte um Ernährungsgewohnheiten, Massentierhaltung und den umweltschädlichen Aspekt von Fleischkonsum wieder daran erinnern, dass es eine Jugendkultur gibt, die schon seit Jahrzehnten einen anderen Umgang mit Nutztieren predigt. Und über die Sache mit dem Verzicht auf Drogen und Alkohol kann man ja zumindest mal nachdenken.
"Edge - Perspectives on Drug Free Culture". Regie: Marc Pierschel/Michael Kirchner, Deutschland 2010, 162 Min. (DVD Compassion Media)
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