Doku "Armutsindustrie": Zehn Tage Arbeit für ein Puzzle
Die Autorin Eva Müller hat in der boomenden "Armutsindustrie" recherchiert, von der viele profitieren – allerdings nicht die betroffenen Arbeitslosen (Mittwoch, 21.45 Uhr, ARD).
![](https://taz.de/picture/345733/14/armut_06.jpg)
Ein Fernsehabend mit dem Ersten dürfte am Mittwoch keine gute Laune machen. Im Gegenteil. Es treibt einem mitunter Wut in den Bauch. Der Abend lohnt sich dennoch, weil sich die Autorin Eva Müller eines bisher unangetasteten Phänomens angenommen hat: der "Armutsindustrie", die von 1-Euro-Jobbern und subventionierten Mitarbeitern lebt, die rasant wächst und von der viele profitieren, nur nicht die betroffenen Arbeitslosen.
Im Film taucht etwa René auf. Der gelernte Mechaniker baut Trampoline für ein schwäbisches Unternehmen zusammen, das einst in Deutschland Arbeitsplätze strich, um in China zu produzieren. Weil sie dort zwar billiger, aber auch schlampiger arbeiteten, setzt die Firma inzwischen wieder auf deutsche Wertarbeit.
Während sie früher hierzulande übliche Löhne und Versicherungsbeiträge zahlen musste, greift heute der Steuerzahler in die Tasche. René und die anderen Fließbandarbeiter sind nämlich 1-Euro-Jobber und damit Teil der Armutsindustrie. Für ihren Arbeitsplatz zahlt der Staat bis zu 500 Euro im Monat - frei von Versicherungen.
René und Kollegen bekommen einen Euro pro Stunde, um ihr Hartz-IV-Budget aufzubessern. Perfide daran ist, dass nicht der Trampolinhersteller auf die Idee gekommen ist, sondern ein Personaldienstleister, der ausgerechnet zur evangelischen Kirche gehört - und sich "Neue Arbeit" nennt. Sie entleihen mehr als 1.000 1-Euro-Kräfte.
Wer jetzt denkt, da sei bloß etwas schiefgelaufen, irrt gewaltig. Längst werden laut ARD mehr als eine Million Menschen mit solchen Modellen aus der Arbeitslosenstatistik gekauft. Der Preis dafür sind Lohnkosten von mehr als einer Milliarde Euro pro Jahr: Sozialbeiträge und Steuern, deren Profiteure nicht Arbeitslose sind, sondern freie Unternehmen, bis hin zur verarbeitenden Industrie.
Müller selbst sagt, sie sei bei den Dreharbeiten "erstaunt gewesen, wie normal manch einer es findet, 1-Euro-Jobber, die vom Steuerzahler bezahlt werden, in der Produktion für ein ganz normales Produkt einzusetzen". Der Film der Autorin, die immer wieder mit herausragenden Sozialreportagen glänzt, zeigt auch Arbeitslose, die als Praktikanten bei Logistikunternehmen Lieferungen zusammenstellen. Oder Frauen, die als 1-Euro-Kraft putzen - auch bei Stadträten und Rechtsanwälten. Und eine Langfassung der "ARD Exklusiv"-Doku, die im August im WDR zu sehen sein wird, befasst sich mit einem Supermarkt, betrieben von 1-Euro-Jobbern.
Der Film könnte eine gesellschaftspolitische Debatte auslösen. Denn Müller beschäftigt sich auch mit dem Prinzip des "Social-Washings": Unternehmen, die sich mit karitativen Projekten ein soziales Image verpassen, "dabei aber auf fragwürdige Methoden zurückgreifen", so die Autorin, die etwa den TÜV-Konkurrenten Dekra besuchte.
Der beschäftigt 1-Euro-Jobber und verkauft als "Eignungsfeststellung" Projekte wie diese: Gleich mehrere Arbeitslose puzzeln um die Wette, um festzustellen, ob bei gebrauchten Spielen Teile fehlen. Sind sie vollständig, werden sie verkauft. Im Film erklärt einer: "Der Rekord für 5.000 Teile liegt bei knapp zehn Tagen." Zehn Tage für ein gebrauchtes Puzzle. Arbeitszeit ist hier offenbar nicht viel wert.
Die "Armutsindustrie" zeigt auch die andere Seite der Medaille, nämlich Arbeitslose, die resignieren statt sich zur Wehr zu setzen. Etwa einen jungen Mann, der auf Nachfrage der Reporterin lamentiert, er habe für Arbeiten zwei Wochen Zeit, die problemlos in ein bis zwei Tagen erledigt werden könnten. Er fühle sich nicht ernst genommen. Warum er sich nicht beim Arbeitsamt beschwere, fragte ihn die Autorin. "Weil das eh nichts bringt. Ich bin doch Bittsteller und muss mich mit denen gut stellen."
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