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Archiv-Artikel

Documenta im Quadrat

Grand Tour von London aus in die münsterländische Provinz: Im großen Trubel des Kunstsommers tritt die 4. „Skulptur Projekte“ in Münster selbstbewusst gegen Kassel, Basel und Venedig an

VON HENRIKE THOMSEN

Die Reise war unbequem, gefährlich und dauerte Monate, wenn nicht Jahre. Sie diente weniger dem eigenen Vergnügen als der gesellschaftlichen Initiation: Wer im vornehmen Kreis reüssieren wollte, musste sich mit Rom, Neapel und Venedig auskennen. Für die Grand Tour, die Mutter aller Bildungsreisen, wäre es im 18. Jahrhundert freilich niemandem eingefallen, in die deutsche Provinz zu pilgern – selbst wenn es dort eine noch so interessante aktuelle Ausstellung gegeben hätte. Was zählte, waren Italien und die Antike, basta.

Dagegen widmet sich die aus dem Geist der Werbung wiedergeborene „Grand Tour des 21. Jahrhunderts“ ausschließlich der zeitgenössischen Kunst, frei nach dem Motto: „See (and buy) contemporary art in ten days“. Die Route vereint die 52. Venedig Biennale, die 38. Art Basel, die 12. documenta und die 4. „Skulptur Projekte“ in Münster. Dass die etablierte Baseler Messe und die documenta auf der Route liegen, zumal Letztere der Leitfrage nachgeht, ob die Moderne unsere Antike sei, ist immerhin nachvollziehbar. Aber Münster? Das Städtchen hinter dem Teutoburger Wald gilt als konservativ-katholisch, und dass hier alle zehn Jahre eine zeitgenössische Ausstellung stattfindet, wissen trotz des hohen Renommees der Künstler und Kuratoren sicher die wenigsten. Als Gewinner des findigen Marketingkonzepts für diesen Kunstsommer, das „die drei bedeutendsten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst sowie die führende Kunstmesse weltweit“ integriert bewirbt, steht Münster damit jetzt schon fest. Tatsächlich verspricht „Skulptur Projekte“ aber auch das Niveau, um mit den großen Schwestern mitzuhalten.

„Skulptur Projekte“ ist so etwas wie die documenta im Quadrat: Doppelt so selten in einer noch kleineren Stadt, die in einen umso größeren Ausnahmezustand gerät. Denn die Arbeiten – in diesem Jahr 33, es gab aber auch schon doppelt so viele – verstecken sich in keinem Fridericianum oder Pavillongelände, sie verteilen sich quer über die Plätze und Häuser und Naherholungsgebiete der Kommune. Dass die Münsteraner sich damit zunächst nicht leicht taten und manche Künstler ihr Werk nur unter Polizeischutz vollenden konnten, gehört inzwischen zur Ausstellungsgeschichte. Heute ist man stolz auf so manche verbliebene Skulptur, die zum neuen Wahrzeichen der Stadt wurde: zum Beispiel Claes Oldenburgs „Giant Pool Balls“, die wie riesige Billardkugeln am nahe gelegenen Aasee liegen, oder Thomas Schüttes seltsam proportionierte „Kirschensäule“. Auch manche temporäre Installation aus der jeweils 100 Tage währenden Schau hat sich eingeprägt. Nam June Paiks „32 cars for the 20th century“ etwa: 1997 hatte der inzwischen verstorbene Altmeister der Konzept- und Medienkunst 32 silbergefärbte Oldtimer vor dem fürstbischöflichen Schloss arrangiert, die statt eines Motors alte Fernseher und Radios unter der Haube hatten und leise Mozart spielten.

In der Extraklasse von Künstlern wie Thomas Schütte, Nam June Paik, Josef Beuys, Richard Serra, Ulrich Rückriem, Rebecca Horn, Ilya Kabakov und Bruce Nauman hat die Ausstellung stets gespielt. Sie verdankt dies ihrem Gründer und bis heute amtierenden Kurator Kasper König, der als Professor an der Kunstakademie in Düsseldorf, Rektor der Städelschule Frankfurt und Gründungsdirektor der Ausstellungshalle Portikus in Frankfurt seinen Weg machte und als heutiger Direktor des Kölner Museums Ludwig zu den einflussreichsten deutschen Persönlichkeiten im Bereich zeitgenössische Kunst zählt. König und sein Mitinitiator Klaus Bußmann hatten zunächst einen Schwerpunkt auf amerikanische Minimal-Art und Konzeptkunst gelegt, sie zeigten auch Land Art und Pop-Art samt deren europäischen Vertreter. Medienkunst und Performance Art spielten bisher eine eher untergeordnete Rolle. Dies hat sich geändert: Mit seinen Ko-Kuratorinnen Brigitte Franzen vom Westfälischen Landesmuseum und Carina Plath vom Westfälischen Kunstverein präsentiert König diesmal zahlreiche Film- und Videoprojekte, Diskursanalytisches und Performatives. So wird Clemens von Wedemeyer, der sich auf der Berlin Biennale 2006 mit der subtil zwischen Theater- und Dokumentarfilm bewegenden Arbeit „Rien du tout“ vorstellte, einen neuen, auf Münster bezogenen Film vorstellen, ebenso wie Valérie Jouve, die sich durch ihren soziologischen Blick auf Menschen und Städte auszeichnet. Der israelische Videokünstler Guy Ben-Ner verwandelt Fahrräder mit Hilfe von Bildschirmen und Videoplayern zu „Bildmaschinen“, die in Konkurrenz mit der realen Umgebung treten. Mindestens zwei Künstler gestalten ohne den Umweg über die Form lieber direkt Diskussionen: Maria Pask lädt religiöse Gruppen zum Gespräch in den Schlossgarten. Deimantas Narkevicius hatte ursprünglich vor, den Kopf einer Marx-Statue aus Chemnitz nach Münster zu bringen. Die frühere Karl-Marx-Stadt mochte, vielleicht wegen eines Rests Totem-Scheu, den Kopf aber nicht hergeben. Für den Litauer, der jüngst auch die Unruhen um den Abbau eines Weltkriegsdenkmals im benachbarten Estland beobachten konnte, Stoff genug, um stattdessen eine Diskussion über Monumente anzusetzen.

Mit den Künstlerlisten der Biennale und der documenta gibt es manche Überschneidung: Die nach Münster eingeladene Bildhauerin Isa Genzken etwa gestaltet den deutschen Pavillon in Venedig, Andreas Siekmann ist auch in Kassel präsent. Andere Künstler wie Bruce Nauman (auch er parallel zu Gast in Venedig) und Thomas Schütte zitieren sich in Münster selbst als Klassiker: Nauman realisiert die Arbeit „Square Depression“, die er für die erste Ausstellung 1977 geplant, aber nicht umgesetzt hatte: eine 25 Meter breite Senke oder „negative Pyramide“, in deren Mitte der Besucher auf Augenhöhe mit der Bodenkante steht. Schütte bearbeitet den Platz neu, auf dem er 1987 seine berühmte „Kirschensäule“ installierte. Aber diese Folie von früheren und konkurrierenden Arbeiten ist unumgänglich und sollte befruchtend gesehen werden. Den Alleinbesitz auf einen Künstler kann im heutigen Kunstbetrieb ohnehin niemand mehr anmelden.

„Die Unterschiedlichkeit der Beiträge ist groß. Wir wollten das nicht durch ein Motto eingrenzen“, sagt König mit Blick auf den Leitsatz „Think with the senses / Feel with the mind“ der Biennale und die Leifragen der documenta. Im Zentrum von „Skulptur Projekte“ stehe ohnehin kontinuierlich das Verhältnis von Öffentlichkeit und Kunst. Die Notwendigkeit, die Arbeiten an die Stadt Münster anzudocken, sei Matrix genug. Der Umgang mit damit falle freilich jedes Mal anders aus: „1987 ging es sehr stark um den Genius Loci, um Münster als besonderen Ort und für was er steht. Das scheint heute weniger der Fall zu sein. Münster ist das Beispiel, hier findet die Verhandlung statt. 1997 ging in Richtung Infotainment, wenn auch ironisch. Diesmal haben wir weniger Beiträge, eine gewisse Verlangsamung und die Zuwendung zu allgemeinen, grundsätzlichen Fragen“, sagt König.

In diesem Sinne beobachtet auch Carina Plath: „Der städtische Raum wird nicht länger als Container wahrgenommen, sondern als flüchtiger Raum. Dieses Unfassbare ist ein wichtiger Untersuchungsgegenstand.“ Der für den Turner-Preis nominierte Brite Mark Wallinger etwa wird eine hauchfeine Angelschnur in einem Kreis durch die Stadt spannen. Er bezieht sich damit auf die subtilen Mechanismen von Ein- und Ausgrenzung in einer Gemeinschaft, lässt Assoziationen zu geschlossenen Vierteln, Ghettos und auratischen Tabu-Orten anklingen. Die Amerikanerin Martha Rosler beschäftigt sich mit der verdrängten Geschichte im Stadtbild von Münster: Das Bild von Geschlossenheit und zur „Niedlichkeit entwerteter, biederer Schönheit“, das die im Zweiten Weltkrieg fast völlig zerstörte Stadt heute wieder vermittele, soll durch den Transfer von städtebaulichen und architektonischen Details in neue Zusammenhänge gestört werden.

Mit solchen Arbeiten, die das Selbstbild der Stadt wie den kulinarischen Anspruch des Kunstkonsumenten irritieren, war man früher allerdings viel stärker auf Konfrontation aus. Heute werden die Arbeiten eingehegt durch ein breites Vermittlungsangebot, auf das man in Münster wie in Kassel besonderen Wert legt. Ein ungewohnt hoher Anteil des Gesamtbudgets von 5,25 Millionen Euro ist für Führungen zu Fuß oder per Fahrrad, Multimedia Guides, Workshops und ein breites Angebot an Jugendliche und Kinder reserviert: rund 410.000 Euro Finanzmittel plus 300.000 Euro Sachmittel. Rund 10 Prozent des Gesamtetats fließen außerdem ins Marketing. Der Zusammenhang liegt auf der Hand: Wer Grand Tour sagt, sagt eben auch Bildung, und wer einen breiten Strom von Touristen und Sammlern bis nach Asien, Afrika und Lateinamerika ansprechen will, muss sich von Sätzen wie „Bei aller Sympathie für didaktische Vermittlung wollten wir keinen kunstpädagogischen Leitfaden“ oder „Der ideale Besucher dieser Ausstellung ist eigentlich nicht der Teilnehmer am internationalen Kunsttourismus, obwohl auch er uns willkommen ist, wenn er ein wenig Zeit mitbringt“ (König 1987) verabschieden.

Der geballte Auftritt der Kunst in diesem Sommer kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie gar nicht mehr so selbstbewusst daherkommt. Man spürt den schleichenden Zweifel an ihrer gesellschaftlichen Position und den Wunsch nach größerer Wirkungsmacht, der von Ausstellungsmachern und Künstlern jüngst häufig thematisiert wird. Vor diesem Hintergrund eint es Venedig, Kassel, Basel und Münster, dass sie dem Besucher möglichst viele Denk- und Organisationshilfen anbieten. Die kleinste Schwester verspricht dabei eine sehr persönliche, überschaubare und effiziente Begegnung mit den gleichen Künstlern, die im Trubel und in der Fülle der anderen Ausstellungen leicht nivellierter wirken können. Das mag eine Reise von London nach Münster wert sein.

www.skulptur-projekte.de und www.grandtour2007.com