Dissident über China und die Menschenrechte: "Lest mehr Chinesen!"
Der Dissident Bei Ling fordert den offenen Dialog zwischen China und dem Westen. China müsse endlich die Menschenrechte respektieren, und der Westen könne von China lernen.
taz: Herr Bei Ling, während der Westen von China mehr freiheitliche Menschenrechte einfordert, stützt China sich auf seine Definition von sozialen Menschenrechten. Was halten Sie von diesen unterschiedlichen Sichtweisen?
Bei Ling: Diese beiden Standpunkte können nicht voneinander getrennt werden. Wenn die Europäer die chinesische Perspektive ablehnen, so müssen Sie doch Chinas Fortschritte in diesem Bereich berücksichtigen. Der springende Punkt aber ist, dass China sich nicht mehr mit grundlegenden Fragen wie der Existenz von Hunger beschäftigen muss. Was wir heute brauchen, sind die westlichen Menschenrechte wie freie Meinungsäußerung, Pressefreiheit und Publikationsfreiheit. Ihre Einführung darf nicht verzögert werden.
Wie belastet die Menschenrechtsfrage die Beziehungen zwischen China und dem Westen?
Bei Ling und Dai Qing waren die beiden Autoren, die die Frankfurter Buchmesse in Schwierigkeiten brachte. Die Messe hatte auf Druck Pekings die beiden Autoren von der Gästeliste für ein Symposium gestrichen, nachdem sie trotzdem angereist waren, durfetn sie jedoch teilnehmen und sorgten für einen Eklat.
Der Schriftsteller und Verleger Bei Ling lebt im Exil in den USA, hofft allerdings dieses Jahr wieder nach China reisen zu können. Einen Tag vor Beginn der Frankfurter Buchmesse hielt er auf der Pressekonferenz der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) einen Vortrag über „Untergrundliteratur in China“.
Nach seinem Vortrag nahm sich Bei Ling Zeit um mit der taz über die Menschenrechtslage in China, seine Hoffnung auf neuen Dialog zwischen KP und Dissidenten und die Frankfurter Buchmesse zu sprechen. Dass er in diesem Gespräch die Buchmesse „Book Affair“ statt „Book Fair“ nannte, war mit Sicherheit unbeabsichtigt, beschreibt die diesjährige Buchmesse und ihre Komplikationen mit dem Gastland China jedoch gut.
Eine zentrale Ursache für die Kontroverse zwischen China und dem Westen ist die Tatsache, wie China agiert. Die Chinesen wollen Einfluss auf den Westen ausüben, vergessen aber, dass der Westen einige Forderungen stellt. Wenn China die Forderungen des Westens akzeptieren würde, könnte es nach diesen Kriterien auch den Westen selbst kritisieren. Das wäre ein riesiger Fortschritt für China. Beide Seiten sollten bereit sein, einander zuzuhören und sich aufeinander zuzubewegen. Natürlich soll der Westen nicht nur Veränderung von China verlangen, aber China soll auch nicht sagen, der Westen würde absichtlich die Provokation suchen.
Glauben Sie, dass es in den nächsten Jahren in dieser Hinsicht Wandel in China geben wird?
Wir können durchaus einige Fortschritte beobachten, aber sie gehen häufig viel zu langsam voran. In chinesischen Gefängnissen werden Inhaftierte immer noch zusammengeschlagen. Festgenommene Personen können immer noch lange Zeit ohne Verurteilung festgehalten werden. Es ist besser geworden, aber in China geht es mal ein Schritt vor, dann einen zurück und wieder ein wenig nach vorn. Wenn China ein Teil der Welt sein und seine Stärke entfalten will, dann muss es sich in vielen Punkten an die Vorstellungen des Westens annähern.
Was denken Sie vom Verhalten von Herrn Boos, das vor einigen Wochen zum Eklat geführt hat?
Ich denke, es fehlt ihm ein wenig die Erfahrung, wie man mit einer Supermacht umgeht, noch dazu mit einer autokratischen. Daher wusste er nicht, dass er im Umgang mit China in einigen Bereichen hart bleiben sollte. Er oder seine Mitarbeiter sind eingeknickt. Deshalb ist der Skandal vor drei Wochen passiert. Aber er hat seine Lehren daraus gezogen und uns Dissidenten eingeladen, an der heutigen Eröffnungszeremonie teilzunehmen. Er beabsichtigte, uns einen öffentlichen Raum zu geben, um mit der chinesischen Delegation zu diskutieren. Es ist aber immer noch unmöglich, dass wir gemeinsam an einer offiziellen Diskussionrunde teilnehmen. Sie wollten uns zuletzt auf ein Podium mit offiziellen Autoren bringen, diese aber lehnten das ab. Wir haben also unser Panel, sie haben ihr Panel. So kommen wir miteinander nicht in Kontakt, lernen nicht voneinander und diskutieren nicht miteinander. Insofern war die Buchmesse nicht erfolgreich.
Welchen Beitrag kann die Buchmesse zur Verständigung zwischen China und dem Westen beitragen?
Sie kann dazu beitragen, weil China dadurch mit dem Westen in Kontakt kommt. Mehr als 1000 chinesische Herausgeber, Manager und Autoren reisen nach Deutschland und können sich hier von der ausländischen Literatur überzeugen. Bei ihnen zuhause sind alle Verlage in staatlicher Hand, aber im Ausland sind alle Verlage privat. Sie werden sehen, wie die vielleicht 6000 privaten Verleger sehr gut überleben können und frei von Zensur sind. Sie werden darüber nachdenken: warum ist das so? Ohne die Buchmesse würden sie ihre Sicht nicht erweitern und nach draußen schauen können. Die Messe bringt die Chinesen mit der internationalen Gesellschaft zusammen.
Welche Unterstützung können Sie von westlichen Intellektuellen erwarten?
Wir brauchen Intellektuelle, die nicht nur auf das Äußere Chinas schauen, so wie Medien über China sprechen, sie selbst müssen sich mit dem Inneren Chinas beschäftigen. Sie müssen mehr lesen und über China in Erfahrung bringen. Nicht nur über die reichen Leute, sondern vor allem den einfachen. Sie können sich mit der chinesischen Kultur beschäftigen, der neuen Generation von chinesischen Intellektuellen, Leuten mit Abschlüssen aus Amerika oder London. Diese wollen auf einer Augenhöhe mit dem Westen sprechen.
Es geht nicht darum, dass der Westen nur China belehrt oder anders herum. Wir müssen eingehender miteinander reden. Wir sollten einander zuhören, nicht nur der Westen mit der Volksrepublik, sondern auch der Großzahl von Exil-Chinesen. In Taiwan und Hongkong gibt es viele Intellektuelle, die ein Wort mitzureden haben. Aber auch deutsche Intellektuelle sind ja auf der Buchmesse präsent. Denken Sie nur an die Nobelpreisgewinnerin Herta Müller. Sie kennt sich mit kommunistischer Herrschaft sehr gut aus. China ist natürlich anders als die Sowjetunion oder das kommunistische Rumänien, denn einiges hat sich geändert. Aber wir haben noch immer Propaganda, keine Meinungsfreiheit, keine Verlagsfreiheit, Zensur und Selbst-Zensur.
Was kann der Westen von China lernen?
Erstens ist die chinesische Kultur sehr reichhaltig, so zum Beispiel die Lehren des Konfuzius oder die Dynamik der chinesischen Kunst und Literatur der Gegenwart. Von ihrer Bereitschaft für Veränderung kann sich der Westen einiges abschauen. Zweitens kann der Westen von China noch etwas anderes lernen. Die Chinesen wenden jedes Jahr viel Zeit für die Übersetzung ausländischer Bücher auf, das sind mehrere tausend pro Jahr. Ihre Zahl übersteigt bei weitem die Übersetzungen vom Chinesischen in westliche Sprachen. Dieses Jahr ist vielleicht eine Ausnahme, dass der Westen wesentlich mehr chinesische Werke übersetzt hat. Ich lese viele übersetzte Bücher, ohne sie könnte ich selbst nicht schreiben.
China hat auf dem Human Development Index der Vereinten Nationen einen riesigen Sprung vorwärts gemacht. Manche Kritiker sagen, es habe sich aber insgesamt nichts verändert. Wie beurteilen Sie das?
Natürlich gibt es in China in einigen Bereichen einen großen Wandel. Man kann nicht sagen, es sei alles gleich geblieben. Es ist aber nicht so einfach, denn wissen Sie, die Verantwortung der Literatur und der der Intellektuellen ist es, die Komplexität der Welt hervortreten zu lassen. Eine Situation hat immer sehr viele Seiten. Man kann nie einfach sagen, dass etwas ganz falsch oder ganz richtig sei. Vielleicht machen manche es so, weil sie Kämpfer sind. Ich bin auch ein Kämpfer, aber an erster Stelle immer noch ein Schriftsteller.
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