Diskriminierung: Rollstuhlfahrerin kennt keinen Schmerz
Nach einem Unfall auf einem städtischen Behinderten-Parkplatz klagt eine Rollstuhlfahrerin auf Schmerzensgeld – und verliert: Der Richter verweigert Prozesskosten-Beihilfe, weil die Gelähmte keinen Schmerz spürte.
![](https://taz.de/picture/172856/14/c1_Rollifahrerin_MDewanger_5sp.jpeg)
An einem trüben Novembernachmittag im Jahr 2009 stürzte Angelika Mincke beim Versuch, von ihrem Auto in den Rollstuhl umzusteigen. Sie parkte auf einer Fläche am Rathaus von Ratzeburg, die mit einem weißen Rollstuhl-Zeichen als behindertengerecht ausgewiesen war. Bei dem Sturz brach sich die 54-Jährige den Unterschenkel. Nun will sie Schmerzensgeld von der Stadt – und sicherere Parkplätze. Mincke ging vor Gericht und verlor gleich beim ersten Punkt: Der Richter am Lübecker Landgericht verweigerte der Rentnerin die Prozesskostenhilfe. Er begründete das unter anderem damit, dass die Gelähmte „keine Schmerzen empfinden konnte“ und die „schmerzlose Bettruhe“ keinen Ausgleich rechtfertige.
„Ich gebe zu, ich hatte das selbst unterschätzt“, sagt Mincke. „Über gebrochene Beine hatte ich mir nie Sorgen gemacht – ich sitze ja eh im Rolli. Aber ich war extrem gehandicapt.“ Denn bei jedem Umsetzen, etwa auf die Toilette, ruht das ganze Körpergewicht auf den Beinen: Das kann für die gebrochenen Knochen gefährlich sein.
Vor allem aber bezieht sich „Schmerzensgeld“ keineswegs nur auf Schmerzen. Im entsprechenden Paragraphen 253 ist von „Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit“ die Rede. So fragte auch Minckes Rechtsanwalt Stefan Kranz beim Gütetermin vor dem Landgericht, warum eine Gelähmte weniger Anspruch auf Zahlung habe. Laut Bericht der Lübecker Nachrichten sprach der Richter davon, falsch zitiert worden zu sein – die Formulierung taucht aber in einem Dokument auf.
Für den Richter war die Frage nach dem Schmerzensgeld zweitrangig. Zunächst müsste der Stadt Ratzeburg nachgewiesen werden, dass die Parkplätze nicht behindertengerecht waren. Mincke trägt aber nach Meinung des Gerichts zumindest eine Mitschuld. Das raue Kopfsteinpflaster sei „unschwer und offensichtlich erkennbar. Die Gefahr warnte ausreichend vor sich selbst“, heißt es auch in einem Anwaltsschreiben der Stadt, die sich wegen des laufenden Verfahrens nicht weiter äußern will.
Auch sei nicht der Rollstuhl umgekippt – was ein Beweis für eine zu schräge Fläche sein könnte – sondern nur Mincke selbst gestürzt. Zudem wird bezweifelt, dass die Frau, die in einem Örtchen nahe Ratzeburg wohnt und sich in einem eigenen Verein für die Rechte von Behinderten einsetzt, den Parkplatz am Rathaus nicht kannte. In der Begründung des Gerichts ist von „Risikobereitschaft der Antragstellerin“ die Rede, die eine mögliche Pflichtverletzung der Stadt „deutlich überwiege“.
Mincke ist empört: Den Platz habe sie „definitiv“ nicht gekannt. Vor allem reiche es nicht, dass die Stadt „einfach ein B wie behindert aufstellt und dann sagt, nun sei das Soll erfüllt. Der Parkplatz muss tatsächlich behindertengerecht sein“.
Unterstützung kommt von Dirk Mitzloff, stellvertretender Beauftragter für Menschen mit Behinderungen in Schleswig-Holstein: „Kopfsteinpflaster als Parkfläche für Schwerbehinderte ist kompletter Unfug.“ Genau gesetzlich festgelegt ist das aber nicht, in der entsprechenden Verordnung steht nur etwas über Breite und Länge. So argumentiert auch die Stadt, das Lübecker Gericht bestätigt diese Rechtslage.
Gerade in Altstädten gibt es solche Parkflächen. „Stadtgestalter lieben das“, sagt Mitzloff ironisch. Ärgerlich sei, wenn örtliche Initiativen der Stadt auch noch ein Gütesiegel erteilen – angeblich ist das in Ratzeburg passiert. Allerdings gelten grundsätzlich einige DIN-Normen für barrierefreies Bauen, und dort ist von glattem, festem Untergrund die Rede: „Und das ist Kopfsteinpflaster nun einmal nicht“, sagt Mitzloff.
Schwerer wiegt aber für den Behinderten-Beauftragten die Schmerzensgeld-Frage: „Die Frau ist gestürzt, hat eine Weile in der Dunkelheit gelegen, ohne sich selbst helfen zu können. Und sie hatte Nachteile und Einschränkungen.“ Es sei unverständlich, warum diese Punkte nicht zählen.
Mincke wird diese Argumente noch vorbringen können: Ende Februar findet der nächste Gerichtstermin statt. Die Rollstuhlfahrerin wird auch ohne Prozesskostenbeihilfe versuchen, den Rechtsstreit zu einem Ende zu bringen. Für sie sei es trotz der Kosten eine Sache des Prinzips. Immerhin werde nun in Ratzeburg darüber nachgedacht, die Behindertenparkplätze zu verlegen: Auf eine glattere Fläche, die zudem näher am Rathaus liegt. Passiert sei das aber noch nicht.
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