Dignitas-Vize Arnold: "Es sollte Sterbehelfer geben"
Der Vize des Vereins Dignitas, Uwe-Christian Arnold, gibt erstmals zu, einer todkranken Frau "einen Tipp" zum Suizid gegeben zu haben.
taz: Herr Arnold, was, glauben Sie, kommt nach dem Tod?
Uwe-Christian Arnold: Nichts. Ich bin Atheist.
Von den Menschen bleibt also gar nichts übrig?
Ich glaube nicht an so etwas. Ich mache auch keine Fenster auf, wenn jemand gestorben ist. Manche Angehörige wollen das ja, damit die Seele herausfliegen kann. Einmal hat eine Familie sogar das Fliegengitter abgemacht. Da habe ich mich taktvollerweise zurückgezogen.
Sie sehen das sehr nüchtern.
Das heißt nicht, dass ich das Leben nicht lieben würde. Ich würde gerne noch einmal leben. Das Leben ist fantastisch. Wir leben in der besten Zeit, die es in Europa je gegeben hat. Zumindest meine Generation. Mit Deutschland ging es seit meiner Geburt fast nur bergauf.
Für die einen ist Uwe-Christian Arnold der Retter in der Not. Für die anderen versündigt er sich an seinem Beruf. Denn der 62-jährige Berliner Arzt hilft todkranken Menschen beim Sterben. Früher hatte er in Berlin eine urologische Praxis und machte nebenbei auch Sterbebegleitung. Vor zwei Jahren trat er in die umstrittene Sterbehilfe-Organisation Dignitas ein. Heute ist er Zweiter Vorsitzender des Vereins in Deutschland. Bisher war bekannt, dass Dignitas todkranke Menschen, die sterben wollen, in die Schweiz schickt. In einer Dignitas-Wohnung bekommt der Kranke auf seinen Wunsch hin einen Becher mit einem speziellen, in der Schweiz zugelassenen tödlichen Medikament. 120 Deutsche gingen 2006 diesen Weg.
Können Sie sich trotzdem vorstellen, Ihrem Leben irgendwann selbst ein Ende zu setzen?
Ja natürlich, wenn ich sehr krank wäre. Wenn ich zum Beispiel einen Hirntumor hätte im fortgeschrittenen Stadium, der zu Demenz führt. Dann würde ich rechtzeitig, bevor ich nichts mehr machen kann, diesen Weg gehen.
Warum sind Sie so sicher, dass nicht im letzten Moment die Angst vor dem Tod überwiegt?
Ich bin mir nicht sicher. Das weiß man vorher nie. Aber ich weiß, dass ich keine Schmerzen leiden will. Als Arzt habe ich gesehen, wie manche sich quälen. Diese Schmerzen, die eine schlimme Krankheit mit sich bringt, sind zermürbend.
Man kann Schmerzmittel nehmen.
Aber irgendwann hilft auch die beste Behandlung nicht mehr. Natürlich bin ich dafür, dass man alle Therapiemöglichkeiten ausschöpft. Unsere Patienten bei Dignitas fragen wir auch immer wieder: Haben Sie alles versucht? Wir loten aus, ob die Leute wirklich überlegt haben, was sie da tun. Und ich bin immer wieder erstaunt, mit welcher fast schon brutalen Härte diese Menschen dem Tod entgegengehen. Sie sagen einfach kurz und knapp: Mir reichts. Feierabend. Ganz knallhart. Mir ist das manchmal beinahe unheimlich. Aber die Menschen haben eben lange genug gelitten.
Sie sind vor zwei Jahren bei Dignitas eingetreten, heute sind Sie Zweiter Vorsitzender des Vereins in Deutschland. Wie sieht Ihre Arbeit aus?
Die meiste Arbeit ist nicht die, den Menschen beim Sterben zu helfen, sondern mit denen zu sprechen, die sich an uns wenden. Da gibt es zwei große Gruppen: die einen, die eine körperliche Krankheit haben und sich über Sterbehilfe informieren wollen. Und die vielen anderen, die rein psychisch krank sind. Und denen sollten wir besser nicht zum Sterben helfen. Wenn ich den Eindruck gewonnen habe, jemand hat vordergründig eine psychische Erkrankung, leite ich ihn an einen Psychiater weiter.
Sie besuchen aber auch körperlich todkranke Menschen, die sich von Ihnen Hilfe beim Sterben erhoffen. Wie läuft ein solches Treffen ab?
Das ist zunächst eine ganz normale ärztliche Tätigkeit. Ich mache ein Vorgutachten, auf das sich der Arzt in der Schweiz dann beziehen kann. Natürlich, die Leute sind verzweifelt. Aber die Resonanz ist auch sehr positiv. Viele bedanken sich, dass ich mit ihnen so lange über das Thema Sterben gesprochen habe. Sie sind erleichtert.
Weil Sie Ihnen einen Ausweg bieten?
Ja. Es gibt einen Ausweg in der Schweiz. Dort dürfen Ärzte ein tödliches Medikament verordnen, das Sterbehilfeorganisationen dann an die Betroffenen weitergeben. Aber es gibt auch in Deutschland Methoden, wie man sein Leben selbst beenden kann. Der Kranke muss nicht unbedingt in die Schweiz reisen.
Was für Methoden?
Das werde ich Ihnen nicht sagen, aber das wissen die meisten Ärzte. Es gibt Medikamentencocktails, die zum Tod führen. Diese Methoden sind zum Teil illegal und außerdem nicht so angenehm wie das Mittel, das die Schweizer haben. Man muss relativ viele Medikamente in einer bestimmten Kombination schlucken. Das setzt einen gesunden Magen voraus.
Bisher hat Dignitas die Leute immer in die Schweiz geschickt.
Man kann auch hier was machen. Das sagt nur niemand öffentlich. Aber ich habe die Nase voll von dieser Heuchelei. Der ärztlich assistierte Suizid ist mein Ziel. Im Klartext: Ich will, dass es Sterbehelfer gibt, genauso wie es Geburtshelfer gibt. Ärzte, die sich mit der Sterbehilfe beschäftigen wollen, die sollen das verdammt noch mal auch tun können.
Machen Sie sich nicht strafbar, wenn Sie jemandem eine tödliche Mischung von Medikamenten geben?
Nein. Man kann die Mittel aufschreiben, das ist kein Problem. Das kann jeder Arzt, das tun ja auch viele. Ein niedergelassener Arzt kommt immer mal in die Situation, dass er ein bisschen nachhelfen muss. Sicher passiert das nicht ständig. Das sind Einzelfälle, aber die gibt es.
Haben Sie schon mal nachgeholfen?
Mein erster Sterbefall war eine Frau um die 50. Sie hatte Krebs, einen künstlichen Darm, einen Nierenausgang, eine stinkende Wunde an den Beinen. Dann trat auch noch etwas ganz Furchtbares ein. Der Stuhlgang kam aus ihrem Mund heraus. Das ist das Elendste, was man sich vorstellen kann. Die Frau hat gefragt: Doktor, was mache ich denn, wenn es nicht mehr geht? Sie hatte eine Morphiumpumpe. Der habe ich dann einen Tipp gegeben, wie sie es schafft.
Da bekommen Sie keine Probleme?
Die Beihilfe zum Suizid ist auch in Deutschland nicht verboten. Sie wird nur ethisch und moralisch angefeindet.
Sie wollen, dass Sterbehilfe gesellschaftlich akzeptiert wird. Wenn das so wäre, könnten sich Kranke, die ihren Angehörigen zur Last fallen, unter Druck gesetzt fühlen.
Dieser Missbrauch ist doch auch jetzt schon längst möglich. Ich habe zum Beispiel erlebt, dass eine Familie den Großvater in einem feuchten Keller untergebracht hat. Da bekam er dann eine eitrige Bronchitis. Wenn die Angehörigen jemanden loswerden wollen, finden sie auch heute einen Weg.
Viele Ärzte sagen: Mein Job ist, zu heilen, und nicht, beim Sterben zu helfen.
Das können sie ja tun. Aber bestimmt die Hälfte der Ärzte denkt nicht so. Sterbehilfe ist ein Teil unseres Berufs. Natürlich ein hochsensibler Teil, mit dem man sorgfältigst umgehen muss. Mindestens zwei Ärzte sollten sich ein Urteil gebildet haben. Es sollte nicht die Privatentscheidung des Onkel Doktors sein, der ein bisschen nachhilft, wie das jetzt der Fall ist.
Ist schon mal einer Ihrer Patienten gestorben, und Sie haben sich hinterher gefragt: War das wirklich richtig?
Dignitas hat in Deutschland über 1.400 Mitglieder, aber von denen kommt ein Bruchteil nur zum Sterben. Ich habe in den letzten zwei Jahren mit vielleicht 50 Menschen direkt zu tun gehabt. Von denen sind höchstens 10 in die Schweiz gefahren. Zweifel hatte ich da keine.
Im Moment sind Sie derjenige, der zwischen Leben und Tod vermittelt.
Für manche bin ich wohl eine Art Messias, ja.
Sie gefallen sich in dieser Rolle, oder?
So würde ich es nicht sagen. Aber ich verstehe mich schon als Vorkämpfer. Nur Einzelpersonen schaffen Veränderungen. Es ist eine urärztliche Aufgabe, sich mit dem Sterben auseinanderzusetzen. Und ich finde es sehr traurig, dass sich der Chef der Ärztekammer einer Regelung dieses dringenden gesellschaftlichen Problems verschließt. Wenn die Leute wüssten: Am Ende des Lebens kann ich mich an eine Institution wenden, dann wäre Dignitas gar nicht mehr erforderlich. Dann würde ich aus dieser Rolle auch wieder herauskommen. Das wäre doch optimal.
Wann hatten Sie selbst zum ersten Mal mit dem Tod zu tun?
Als Kind. Meine Mutter ist gestorben, als ich zwölf Jahre alt war. Sie hat sich umgebracht, mit Tabletten. Mein Vater und sie, sie hatten große Beziehungsprobleme. Als Kind habe ich nicht verstanden, was da läuft. Aber ich habe gesehen, der Tod ist normal, er gehört dazu.
Wie sind Sie mit diesem Erlebnis umgegangen?
In den Jahren, nachdem meine Mutter gestorben war, habe ich sie gehasst, weil sie mich alleingelassen hat. Später habe ich meinen Vater gehasst, weil er ihr das angetan hat. Heute sehe ich das sehr differenziert, heute würde ich keinen mehr verurteilen. Als Arzt wurde mir später auch klar, dass es nicht so weit gekommen wäre, hätte meine Mutter professionelle Hilfe gehabt. Sie war nur bei einem Frauenarzt. Sie hätte zum Psychiater gemusst.
War der Tod Ihrer Mutter ein Grund für Sie, Arzt zu werden?
Ja. Ich will Menschen zum Leben helfen. Ich will nicht, dass sich jemand wegen einer Beziehungskrise umbringt. Ursprünglich wollte ich ja Kinderarzt werden, aber ich konnte die Kinder nicht leiden sehen. Leiden war immer mein Problem, ich kann es nicht ertragen. Wenn ich heute Leidende am Ende des Lebens sehe, denke ich, das ist doch nicht nötig.
Stellen Sie dann nicht Ihr Bedürfnis über das des Patienten?
Die Frage ist berechtigt. Aber ich denke, ich kann das abwägen. Wenn ich das nicht könnte, müsste ich aufhören. Ich muss darauf achten, dass ich nicht zu viel arbeite. Und ich spreche viel mit Leuten aus meinem Fach. Man muss über schwierige Situationen reden, sonst wird man verrückt.
Dignitas wird oft angefeindet. Wie gehen Sie mit so viel Kritik um?
Bisher bin ich nicht angefeindet worden. Sicher, in Talkshows, da schon. Der damalige Bischof von Hannover hat mir in einer Diskussion einmal mehr oder weniger den Tod gewünscht. Aber aus der Bevölkerung bekomme ich nur Zuspruch. Ob im Bekanntenkreis oder im Golfclub, die Leute klopfen mir auf die Schulter und sagen: Wenn ich mal so weit bin, kann ich hoffentlich auf dich zählen.
Wenn Sie es sich selbst aussuchen könnten, wie würden Sie sterben?
Ich würde ein Mittel nehmen wollen, das den Tod herbeiführt. Und dann einfach einschlafen.
INTERVIEW: ANTJE LANG-LENDORFF
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid