■ Die veränderte Arbeitswelt braucht ein neues Recht: Arbeitsbürger statt Arbeitnehmer
Jeder weiß: Das Modell der „Sozialpartnerschaft“ ist mächtig ins Wanken geraten. Und dennoch wird weiter munter ausgesessen. Massenarbeitslosigkeit, Unvereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Lebensinteressen erfordern gestalterische Fantasie und Entwürfe. Und zwar heute, unter den Bedingungen der Arbeitsmarktkrise – und nicht erst, wenn es wirtschaftlich wieder „aufwärts“ gehen sollte. Wenn die Verhältnisse tanzen, das Recht aber starr bleibt, dann stirbt ein Stück Demokratie. Der Gesamtrahmen unserer Arbeitsbeziehungen muß neu gestaltet werden. Wir brauchen eine neue Verfassung der Arbeit – einen Solidarpakt, der diesen Namen verdient.
Und wie die Verhältnisse tanzen! Die deutschen Arbeitsbeziehungen sind getrieben von Tendenzen zur Dienstleistungsgesellschaft, zur nationalen und internationalen Wirtschaftsverflechtung, konjunkturellen und strukturellen Krisen, technologischen Umbrüchen, Flexibilisierungen. Atemberaubender ist der soziokulturelle Wandel: Individualisierung, neue Wohnformen, Pluralisierung der Lebensstile, Einsamkeit, Ellbogengesellschaft, neue Armut – aber auch neue Geselligkeit, neue Solidarformen. Betriebliche Interessenvertretung steht vor der Herausforderung neuer informeller und individualisierter Beteiligungsformen: Qualitätszirkel, lean production usw.
Auch die Frage der Arbeitszeiten wird immer wieder aufgeworfen: Ein neues flexibilisierendes Arbeitszeitgesetz ist verabschiedet, um den Ladenschluß wird alle Jahre wieder neu gerungen. Ansätze einer Beschäftigungsversicherung durch Arbeitsumverteilung (Stichwort: Viertagewoche bei VW) haben Raum gewonnen.
Wer pfeift eigentlich den tanzenden Verhältnissen die Melodie vor? Tja – langes Schweigen. Die Politik bestimmt nicht, die Verbände allenfalls zaghaft. Brüssel hat sich weithin aus der Sozialgestaltung verabschiedet. Die supranationalen Mächte und Märkte summen (unhörbar) ihre Melodie. Kurzum: Was fehlt, sind bewußte gestalterische Entwürfe. Nicht Reförmchen und Systembasteleien, sondern Visionen, die Aussicht haben, gemeinsam verabredete Vernunft in den Wandel der Dinge zu ziehen.
Ideen für gestalterische Entwürfe gibt es durchaus.
– Anzuerkennen und auszugestalten ist die Rolle der ArbeitnehmerInnen als gesellschaftlich verantwortlicher BürgerInnen im Betrieb. Soll z.B. jemand widerspruchslos etwas produzieren müssen, von dessen Schädlichkeit er „draußen“ als Bürger betroffen ist?
– Neu zu regeln ist das Geschlechterverhältnis und dessen Auswirkung auf das Erwerbsleben mit dem Ziel, die Diskriminierung von Frauen zu beseitigen und den Lebens- und Entfaltungsbedürfnissen beider Geschlechter in den Arbeitsbeziehungen Raum zu schaffen.
– Im betrieblichen Arbeitszeitregime sind „Optionen“ für die Beschäftigten zu schaffen, damit sie ihre Arbeits- und Lebensbedürfnisse aufeinander abstimmen und mit den vernünftigen Erwartungen der Gesellschaft in Einklang bringen können.
– Die Schutzzonen des Arbeitsrechts sind den gewandelten flexibleren betrieblichen Integrationsformen und ihren Risiken anzupassen. Die Rede von „Gewinnern“ und „Verlierern“ ist zynisch; niemand darf sang- und klanglos durchs soziale Netz fallen.
Arbeitsrecht wirkt auf Individualisierung und Pluralisierung von Lebenslagen abhängig Beschäftigter ein. Es könnte weniger schaden und besser fördern, als es derzeit tut. Arbeitsrecht müßte der faktischen Verschiedenartigkeit und Vielgestaltigkeit der entstandenen Lebenslagen Beschäftigter Rechnung tragen und doch gleichermaßen Schutz zuteil werden lassen. Es muß im Namen der „Gleichheit“ verschiedenartiger ArbeitnehmerInnen der Ausgrenzung und Marginalisierung entgegentreten.
Passen solche Vorschläge in die Landschaft, haben sie Aussicht, Diskurse anzustoßen, sich darin durchzusetzen? Antwort: In die politische Landschaft passen die Vorschläge nicht gerade – Aussicht, fruchtbare Diskurse anzustoßen, haben sie gleichwohl.
Was die großen politischen Parteien derzeit an Ideen und Vorschlägen zur Lösung der großen sozialen Probleme anbieten, ist schockierend dürftig. Man vergegenwärtige sich, wie sich Blüm an dem bescheidenen Reformvorhaben der Pflegeversicherung zerrieben hat (bescheiden, da im Ergebnis von den Beschäftigten selbst finanziert). Auf welche politischen Blockaden werden da erst weiterreichende soziale Reformprojekte treffen? Nur: diese Blockaden lösen an den sozialen Problemen nichts. Die Gefahr gesellschaftlicher Ausgrenzung scheint zum ersten Mal die bundesrepublikanische Demokratie zu bedrohen. Wenn unter diesen Bedingungen soziale Reformprojekte nicht in die politische Landschaft passen, dann fehlt nicht ihnen, sondern der politischen Landschaft die Realitätstüchtigkeit.
Und wirtschaftlich betrachtet: Sind Reformen der verlangten Art im zugespitzten internationalen Konkurrenzdruck nicht zu teuer? Natürlich gibt es verstärkte Schutz- und demokratische Statusrechte Beschäftigter nicht gratis. Aber sie verursachen auch Kooperationsgewinne, erhöhte Motivation, Entwicklung des „Humankapitals“, Arbeitszufriedenheit, und kommen so der betrieblichen Flexibilität und Produktivität zugute. Gewinne dieser Art wurden doch bereits bei der Arbeitszeit, der Frauenförderung und demokratischen Rechten im Betrieb bewiesen. Unmittelbar am Arbeitsleben Beteiligte haben denn auch betriebliche und örtliche Initiativen ergriffen und zur Lösung anstehender Probleme praktisch beigetragen. Alternativen sind machbar und in Maßen konsensfähig. Manche Belegschaften sind bereit, unter Lohnkürzung ihre Arbeit mit von Entlassung Bedrohten zu teilen. Manche Betriebe räumen ihren Beschäftigten vollkommene Selbstbestimmung über die Arbeitszeit ein. Manche Beschäftigte haben in Arbeitskreisen dazu beigetragen, den Schadstoffausstoß des Unternehmens zu verringern oder dem Frieden dienliche Produkte zu entwerfen.
Widerstände gegen moderne Lösungen legen die ein, die behaupten, die Beteiligten seien nicht willens und in der Lage, umzudenken. Sie wollen historisch überlebte Herrschaftspositionen aufrechterhalten, sind mehr an der Entlastung durch Routine als an der Artikulation lösungsfähiger Probleme interessiert. Daß Widerstände kultureller Natur sind, macht sie gegen Modernisierung nicht weniger resistent. Aber sie sind durch die Erfahrung überwindbar, daß es anders besser geht.
Die heutigen Politikmacher zollen dagegen der Pflege der Ideologie ihrer Klientel meist mehr Aufmerksamkeit als den Problemen, zu deren Lösung wir sie mit einem Haufen Geld und Macht ausstatten. Ulrich Mückenberger
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