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Die unsichtbare Grenze im Gebirge

■ Wo sich Deutschland und Italien scheiden – Feldforschung in zwei Bergdörfern

In den sechziger Jahren haben zwei Amerikaner die Erforschung alpiner Kultur und Geschichte um gänzlich neue Perspektiven bereichert: John W. Cole und Eric R. Wolf zählten zu den ersten, die – am Beispiel zweier Bergdörfer in den italienischen Alpen – eine Synthese von kulturanthropologischer Feldforschung und moderner Sozialgeschichte versucht haben. Etliche Jahre verbrachten sie auf dem Oberen Nonsberg, einem einsamen Gebirgsplateau in der Nähe von Meran, das kaum ein Tourist je betreten hatte. Sie halfen den Bauern bei der Arbeit, spielten Karten in der Dorfkneipe und waren dabei, wenn es bei einem Almfest Polenta, Hausmacherwürste und Rotwein gab. Am Ende kannten sie jeden persönlich, hatten zahllose informelle Gespräche und formale Interviews durchgeführt und darüber hinaus jede erreichbare schriftliche Quelle studiert.

Eben dieses karge und unzugängliche Gelände erwies sich als ein für die kulturökologische Forschung äußerst fruchtbares Terrain. Verlief doch gerade hier, zwischen den kaum eine halbe Stunde Fußweg auseinanderliegenden Dörfern St. Felix und Tret, jene sich quer durch die Alpen ziehende kulturelle Wasserscheide, welche die mediterrane Welt des Südens von der transalpinen Kultur des Nordens trennt: Deutsch – in Gestalt des Tiroler Dialekts – war die Sprache in St. Felix, Ladinisch, eine Spielart des Rätoromanischen, im benachbarten Tret. Auf engstem Raum fanden Cole und Wolf hier völlig gegensätzliche kulturelle Traditionen und Muster, an denen das zentrale ökologische Thema des Buches entfaltet wird: Wie stehen kulturelles Erbe und (lokale) Umwelt miteinander in Beziehung? Genauer: Welche sozialen Mechanismen regulieren das stets prekäre „Verhältnis zwischen nutzbaren Ressourcen und lokaler Bevölkerung“?

Damit rücken die unterschiedliche Ideologie und Praxis der Erbfolge sowie die Frage nach Ehe, Heiratsalter bzw. erzwungener Ehelosigkeit in den Mittelpunkt. Die Auswanderung als ein weiteres Ventil zur Regulierung des Bevölkerungsdrucks erscheint nur als Kehrseite der dadurch gewirkten Selektion, welche permanent zwischen dörflicher Kernbevölkerung, marginalisierten Randgruppen sowie jenen unterschied, für die es daheim weder Nahrung noch Platz gab.

Natürlich haben die gegensätzlichen Biographien beider Dörfer auch mit „Ethnizität“ zu tun, dem zweiten großen Thema dieses Buches. Zählten St. Felix und Tret nämlich bis 1918 zum österreichischen Kronland Tirol-Vorarlberg, so gerieten beide nach dem Zerfall des Habsburgerreiches unter die Fittiche des faschistischen Italien, das die deutschen Südtiroler und damit die Bewohner von St. Felix mit zunehmend rabiateren Methoden unterdrückte. Der Obere Nonsberg entpuppt sich so als eine Zone intensiver Konflikte, in welcher Bildung und Scheitern des Nationalstaates ebenso gut studiert werden können wie die Verwerfungen und Grenzen des europäischen Nationalismus. Gewiß: Im Kampf um knappe Ressourcen hatte die Betonung ethnischer Differenzen hier schon immer eine Rolle gespielt. Doch erst das 19. Jahrhundert hat diese nationalistisch aufgeladen und die Region dem Sog widerstreitender Interessen ausgesetzt: dem Druck der deutschen Einheitsbestrebungen im Norden wie auch dem der erwachenden italienischen Nationalbewegung im Süden. Beide schufen neue Polarisierungen, die das Modell lokalethnischer Koexistenz nachhaltig in Frage stellten.

In der Zusammenschau von Ökologie und Ethnizität machen die Autoren auch plausibel, warum beide Dörfer nach 1945 so unterschiedlich auf die Herausforderungen einer sich rapide entfaltenden Marktgesellschaft reagiert haben: Wurde St. Felix wie das ländliche Südtirol unter dem kulturellen Druck der Italianisierung „bäuerlicher als je zuvor“, verteidigte man dort die eigene landwirtschaftliche Zukunft als Ausdruck einer deutschen, „Tiroler“, Identität, so führten Industrialisierung und wachsende Konsumorientierung in Tret sehr viel schneller zur Auflösung dörflicher Strukturen wie auch zum Bedeutungsverlust der lokalen ladinischen Kultur.

Im angelsächsischen Sprachraum längst als Klassiker anerkannt, blieb diese für den gesamten Alpenraum vorbildliche Studie hierzulande lange unbeachtet. Nun ist auch in deutscher Sprache ein Buch zu haben, das den mikroskopischen Blick auf lokale Strukturen beispielhaft mit den großen, makrohistorischen Perspektiven zu verbinden weiß.

Werner Trapp

John W. Cole, Eric R. Wolf: „Die unsichtbare Grenze. Ethnizität und Ökologie in einem Alpental“. Folio-Verlag, Wien/Bozen 1995, 439 Seiten, mit zahlr. Abb., 59DM

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