■ Die unerträgliche Erleichterung: Beamte als gründliche Diebe
Dublin (taz) – Stan Muszynski staunte nicht schlecht, als er an seinem 75. Geburtstag aus dem Urlaub zurückkehrte: Seine Sozialbauwohnung im Londoner Stadtteil Hammersmith, wo er seit zwanzig Jahren mit seiner Frau Barbara lebt, war vollständig leergeräumt worden. Selbst die Auslegware, die Gardinen und die Befestigung für Papierrollen waren verschwunden. Es stellte sich schnell heraus, daß nicht etwa gewöhnliche Einbrecher hier besonders gründlich am Werk gewesen waren, sondern – hoch offiziell – fünf Beamte der Londoner Stadtverwaltung: Sie hatten einem Räumkommando auf ganz normalem Dienstweg den Auftrag gegeben, die Wohnung eines verstorbenen Mieters zu leeren, dabei aber die Adressen verwechselt.
Muszynski ist Jude und stammt aus Polen. Die Nazis hatten ihn in Auschwitz eingesperrt, doch er konnte von dort fliehen. „Alles ist weg“, sagte er jetzt, „Meine ganzen Papiere aus Auschwitz, meine Kriegsmedaillen und sämtliche Anschaffungen, für die wir Jahre gespart hatten. Außer den Sachen, die wir am Körper tragen, ist uns nichts geblieben.“
Und seine Frau Barbara fügte hinzu: „Am schwersten wiegt der Verlust der sechs Fotoalben. Es ist, als ob man uns unserer Vergangenheit beraubt hätte.“
Das Räumkommando hatte den Inhalt der Wohnung in einen Transporter geladen und zur Müllkippe gefahren. Dort wurden die Sachen vorschriftsmäßig zerstampft. Nachbarn haben jedoch beobachtet, daß neben dem Transporter mit dem Schriftzug der Stadtverwaltung noch ein zweiter Transporter ohne Aufschrift vor dem Haus geparkt hatte.
Syd Johnson, der unter den Muszynskis wohnt, sagte, die Arbeiter hätten zwar die alten Möbel und Teppiche in den offiziellen Wagen geladen, der nagelneue Videorecorder, die Kriegsmedaillen und andere Dinge, die brauchbar erschienen, kamen jedoch in den zweiten Transporter. Die Stadtverwaltung hat eine Untersuchung eingeleitet.
Andrew Slaughter, der stellvertretende Stadtratsvorsitzende von der Labour Party, versprach dem Ehepaar „jede erdenkliche Hilfe“, um diese „entsetzliche Tragödie“ wieder gutzumachen. „So etwas ist uns noch nie passiert“, sagte er. Die Muszynskis wurden für die erste Nacht auf Staatskosten in einem kleinen Hotel untergebracht. Als sie am nächsten Morgen in ihre leere Wohnung wollten, ging auch das schief: Die Stadtverwaltung hatte zwischenzeitlich das Schloß auswechseln lassen, dem Ehepaar jedoch den falschen Schlüssel ausgehändigt.
Barbara Muszynski meinte mit einer Portion Galgenhumor: „Seit Jahren haben wir von der Stadtverwaltung verlangt, daß die Wohnung renoviert wird. Jetzt werden sie es wohl endlich tun, weil ihnen die ganze Angelegenheit furchtbar peinlich ist.“ Ralf Sotscheck
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