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Archiv-Artikel

Die unechte Wahrheit des Lebens

Ein sowjetisches Künstlerschicksal zwischen 1927–1946: als Konstruktivist gefeiert, als „Formalist“ verfemt, als Kriegsreporter eine neue Chance. Das Deutsch-Russische Museum in Karlshorst widmet dem Fotografen Boris Ignatowitsch eine Werkschau

Erst mit dem Krieg wurde der Mensch das zentrale Motiv dieses großen Fotografen

VON JÖRG SUNDERMEIER

Der Künstler Boris Ignatowitsch ist einer der Sowjetkünstler, der zwischen der Liebe zur Partei, die immer Recht hat, und seinen eigenen ästhetischen Auffassungen hin- und hergerissen war. Ignatowitsch, der in der Zeit des stalinistischen Terrors ab 1936 mit dem Vorwurf des „Formalismus“ – also des Antirealismus – belegt wurde, schaffte es immerhin, alle Anfeindungen zu überstehen. Dafür musste er sich allerdings in den 30er-Jahren weitgehend aus der Kunstszene zurückziehen und als Fotoreporter arbeiten.

Dabei sah es für Ignatowitsch anfänglich so gut aus. Bereits mit 20 Jahren war er in die Partei eingetreten und bemühte sich um die sowjetische, also verbindliche kommunistische Bildästhetik. Als Konstruktivist propagierte er das „Neue Sehen“. Noch in seinen letzten Lebensjahren vernichtete er einige Bilder, weil sie, wie er schrieb, „nicht originell waren und durch ihre übertriebene Wirklichkeitsnähe erdrückten. Ihr Naturalismus überlagerte die echte Wahrheit des Lebens.“ Diese unnatürliche, immer inszenierte Wahrheit zu zeigen, macht er sich zur Aufgabe.

Zuerst erntete er dafür so etwas wie Weltruhm: Bereits Ende 1929, mit gerade einmal 30 Jahren, war er auf der legendären Werkbund-Ausstellung „Film und Foto“ sowie auf anderen internationalen Ausstellungen vertreten. Doch in der bleiernen Zeit der stalinistischen Säuberungen waren Ignatowitschs Aufnahmen plötzlich nicht mehr gefragt: Seine architektonisch aufregenden Ensembles, seine in die weltrevolutionäre Zukunft weisenden Panzer oder sein berühmtes Bild von der Eremitage, auf dem sich die Menschen zu den riesigen Zehen einer Atlas-Statue verhalten wie Miniaturfiguren – sie passten nicht mehr zu der Idee vom „Proletarier“. Diese Idee selbst war ja nicht genau umrissen und gab so jedem dahergelaufenen Betrachter die Möglichkeit nicht nur zur Be-, sondern gleich zur Verurteilung eines Bildes. Erst nach dem Tod Stalins wurde Ignatowitsch rehabilitiert, doch sein Werk ist über die Grenzen des früheren Ostblocks hinaus kaum noch bekannt.

Ignatowitsch, der wusste, dass das Reale nicht einfach zu knipsen ist, sondern eingefangen, inszeniert werden muss, resignierte zunächst. Erst im Zweiten Weltkrieg fand er als Militärkorrespondent zu seiner alten Form zurück. In der unter dem passenden Titel „Kunst im Auftrag“ firmierenden Ausstellung im Deutsch-Russischen Museum Karlshorst ist zu sehen, wie Ignatowitsch ab 1942 wieder jene Bilder aufnimmt, für die ihn die Apparatschiks ein paar Jahre zuvor noch gescholten hatten. Da ist zum Beispiel das Foto, das eine Flak-Maschinengewehrstellung auf einem Panzerzug an der sogenannten Kalininfront zeigt. Die Gewehre, die spähenden Schützen, der Zug, selbst das Verhältnis der an der Trasse stehenden Bäume zu den Gewehren ist meisterlich inszeniert. Das Bild besitzt eine ungeheure konstruktivistische Dynamik der Linienführung.

Ein anderes zeigt einen Trupp von Partisanen bei Bjansk. Es wirkt auf den ersten Blick wie ein Schnappschuss, erst bei genauerer Betrachtung sieht man, dass die Waffen der lose umherstehenden Partisanen einen visuellen Rahmen um den Jüngsten der Gruppe bilden, vielleicht gerade einmal 14 Jahre. Das Bild bekommt so eine pathosfreie menschliche Tiefe, die gewöhnliche Kriegsfotografien, die allein vom Schmutz und vom Grauen leben, nicht haben.

Auf diese sehr überlegte Bildführung wird man in der Ausstellung vor allem deshalb aufmerksam, weil die Kuratoren nicht nur den Kriegsfotografen präsentieren, sondern auch seine Vorgeschichte. Vor dem Hintergrund der Bilder aus den 20er- und 30er-Jahren fängt der Betrachter ganz von allein an, die Details zu beachten und nicht einfach nur Schreckensbilder aus dem Krieg zu sehen. Dabei bemerkt er eine Veränderung, die der Weltkrieg in die Bilder Ignatowitschs hineingebracht hat: Der Mensch wurde doch noch das zentrale Motiv dieses bedeutenden Fotografen.

Deutsch-Russisches Museum Karlshorst, Zwieseler Str. 4, bis 11. 2., Di.–So. 10–18 Uhr, Eintritt frei. Der Katalog erschien im Christoph Links Verlag