: Die tiefe Angst der Gewerkschaften
■ Eisenbahnerstreik der Kontrolle der etablierten Interessenvertretung weitgehend entzogen
Die französischen Gewerkschaftsführer haben Angst. Andre Bergeron, Chef der drittgrößten konservativen Gewerkschaft „Force Ouvriere“ sagt es offen: „Diese Streikmaschinerie ist verrückt. Man weiß nicht, wo man sie anpacken kann. Wir müssen ihr ein Ende setzen, aber ich weiß nicht, wie. All das kann eine Wende nehmen, die niemand mehr kontrolliert.“ Deutliche Worte, die die beiden großen Eisenbahner–Gewerkschaften, CGT und CFDT so nicht wagen. Doch ihre ehrlichen Ansichten dürften von denen Bergerons nicht allzuweit entfernt sein. Schier verzweifelt klang der folgenlose Verhandlungsaufruf an die Regierung von CFDT–Generalsekretär Edmond Maire am Freitagabend, jenem Gerwerkschaftschef, der noch vor einem knappen Jahr den Streik als „nicht mehr ausschließliches Mittel der Arbeiterinteressenvertretung“ öffentlich in Frage stellte und an diesem Wochenende vergeblich auf eine Wiederaufnahme der Arbeit am Montag - die er für möglich hielt! - hoffte. Die Angst bei Maire und den anderen sitzt in der Tat tief. Und sie kommt von tief: von der Basis. Selbständige Koordination die Selbständigkeit der Basis erschreckt die gealterten Arbeitsführer. Im Pariser Nordbahnhof gründeten Lokführer und Schaffner, die „fahrenden Eisenbahner“, ihre „Nationale Koordination“ außerhalb der Gewerkschaften. Ihre Delegierten aus den Vollversammlungen von etwa der Hälfte der Eisenbahndepots im ganzen Land beschlossen über Art und Weise der Streikdurchführung und überliessen den Gewerkschaften allein die Verhandlungen mit der Direktion. Anders noch die zweite „Nationale Koordination“ vom Pariser Austerlitz– Bahnhof, die alle Eisenbahner vertreten will. Sie mißtraute offen den Gewerkschaften und will - wenn auch bisher erfolglos - als Verhandlungspartner der Direktion anerkannt werden. Immerhin hat sie bereits die Mandate von etwa einem Zehntel der Streikenden erworben. Gegen Selektion Offensichtlich orientieren sich die Koordinationen an dem Vorbild der Studentenrevolte, deren Stärke in der Konsequenz ihrer rätedemokratischen Organisation lag. Auch berufen sie sich auf ihr „unpolitisches“ Mandat, demgegenüber die politiserten Gewerkschaften stehen. Ähnlich den Studenten bedeutet dies keine allgemeine Zurückweisung der Politik, sondern die Abgrenzung von den abgehobenen politischen Apparaten. „Diese Bewegung ist auf ihre Art auch sehr moralisch. Die neue Lohnskala verletzte die Würde jedes einzelnen. Lohnskala und Universitätsreform waren beides Formen der Selektion,“ sagt der französische Soziologe Andre Gorz gegenüber der taz. „Als Basisbewegung aber löst sie eine Frage nicht: wie kann sie aus einem privilegierten Sektor, dem öffentlichen Dienst, kommend das gesamte Proletariat, die Arbeitslosen solidarisieren?“
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