Die schwarzen Balken der Zensur und die weißen Blätter der Hoffnung: Weiß ist die Bewegung des Widerstands
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von José F. A. Oliver
Der Schriftstellerin und Journalistin Aslı Erdoğan droht in der Türkei lebenslange Haft wegen ihrer Arbeit für die prokurdische Zeitung „Özgür Gündem“. An dieser Stelle führen wöchentlich Freundinnen und Kollegen ihre Kolumne fort
Manche meiner Schriftstellerkollegen sagen, sie hätten Angst vor dem weißen Blatt. Ich habe sie manchmal auch. Aber noch mehr fürchte ich mich vor einem schwarzen Blatt. Genauer gesagt vor einem schwarzen Balken.
Ich habe eine Feldpostkarte zu Hause. Es ist ein Hilferuf aus dem Ersten Weltkrieg. Der Inhalt ist nicht mehr zu lesen. Die Mitteilung verdeckt ein schwarzer Balken. Über dem fetten Schwarz ein Stempelabdruck: „Zensiert“.
Ich fürchte mich vor dem schwarzen Balken, weil ich weiß, was passiert und noch passieren wird.
Von „Bevormundung“ zu „mundtot“ ist nur ein Katzensprung. Ein unberechenbarer Wildkatzensprung. Oder ist es eine Bestie? Eine gemachte Bestie? Eine von uns gemachte Bestie?
Zwischen „mundtot“ und „tot“ lauert der Augenblick ausgefahrener und reißender Krallen.
Tot ist nicht mehr lebendig. Aber die, die totmachen, sind gefräßig. Wir müssen die Bestien füttern. Mit weißen Blättern.
Manchmal verteile ich weiße Blätter.
„Schau“, sage ich, „auf diesem Blatt steht Hoffnung, steht Freiheit, steht Leben!“
„Ich kann aber nichts lesen“, erwidern manche. „Ja“, antworte ich. „Du musst die Wörter selber schreiben. Mit den Augen schreiben. Dann vergisst du sie nicht!“
Manchmal sehe ich Augen, die begreifen. „Geh“, sage ich dann. „Geh und verteile weiße Blätter.“
José F. A. Oliver, geb. 1961, ist freier Schriftsteller. Seine Gedichte sind in mehrere Sprachen übersetzt. 2016 erschien von ihm „21 Gedichte aus Istanbul 4 Briefe & 10 Fotow:orte“.
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