: Die scharfe Düsternis einer, die das Ende sieht
„Cassandra“ in der Staatsoper von Bernard Foccrolle soll die Post-Greta-Klima-Trägheit als Musiktheater erfahrbar machen. Doch wohin mit den Gefühlen?
Von Peter Weissenburger
Angenommen, es steht fest, dass Geschichte sich wiederholen muss – ist das dann eine gute Nachricht oder Grund zur Verzweiflung? Diese Idee steht am Anfang der zeitgenössischen Oper „Cassandra“, die zum ersten Mal in der Staatsoper gespielt wird. Zwei Frauen versuchen auf zwei Zeitebenen ein Unheil abzuwenden. Cassandra, die Prophetin im antiken Troja, wird ignoriert. Sandra, die Klima-Wissenschaftlerin, wird nicht ernst genommen. Der eine Ausgang ist bekannt – der andere: offen? Oder ist die Katastrophe längst da?
Die Oper „Cassandra“ ist erst zwei Jahre alt. Uraufgeführt im Jahr 2023 im Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel, wurde die Inszenierung eingepackt und verschifft nach Berlin in die Staatsoper. Geschrieben hat die Oper Bernard Foccroulle, der ehemalige Intendant von genau jenem Théâtre in Brüssel sowie des bekannten Opernfestivals in Aix-en-Provence. „Cassandra“ soll musikalisch, textlich, bildlich, emotional nicht weniger tun, als die gegenwärtige Post-Greta-Klima-Trägheit als Musiktheater erfahrbar machen. Dabei wird nicht nur das Schmelzen des arktischen Eises musikalisch umgesetzt, sondern auch das Bienensterben und – die Seelen von Kindern, die aus Klimaangst nicht geboren wurden? So oder so ähnlich.
Motivisch ist die Oper also ein bisschen wild. Aber wie klingt die Musik? Sie flirrt, raunt, knirscht, schwillt.
Weil es um bevorstehendes Unheil geht, arbeitet Foccroulle mit „Stuhlkanten“-Harmonien – diesen unaufgelösten Akkorden, die man aus Filmen kennt, wenn jemand mit der Taschenlampe in den Keller geht: gleich, gleich – gleich passierts… Besonders in der Orchestrierung sind außerdem: das Summen der Bienen, ein klagendes Saxophon und ein munteres Marimbaphon.
In den Hauptrollen der beiden „unerhörten Frauen“ strahlen Katarina Bradić (Cassandra) und Jessica Niles (Sandra). Bradić, Mezzo, sonst bekannt für männliche „Hosenrollen“ in klassischen Opern, gibt der Prophetin stimmlich die scharfe Düsternis einer Person, die tagtäglich den Untergang ihrer Welt kommen sieht. Niles, Sopran, brilliert mit der schillernden Leichtigkeit einer ehrgeizigen Wissenschaftlerin, die neben ihrer Forschung noch als Klima-Comedienne auftritt.
Ihre Gegenparte haben die Frauen in dem Gott Apollo (souverän und hateable: Bariton Joshua Hopkins) und Sandras Liebhaber Blake (sanft und vulnerable: Tenor Valdemar Villadsen).
Inszeniert hat die Videokünstlerin Marie-Eve Signeyrole. Sie bebildert die Bühne auf drei Ebenen: Im Vordergrund spielen die Sänger*innen, dahinter steht ein Kubus, mit dem interagiert, auf den aber auch projiziert werden kann, und der so wechselnde Orte darstellt. Noch weiter im Hintergrund hängen weiße Stoffbahnen, auf denen die Hauptmotive der Oper sich als Videos abwechseln: Eis, Bienen, und Seelen.
Anders als in manchen Inszenierungen, wo Bühnengeschehen und Video einander überlappen und sich heillos in den Quere kommen, sind sie hier räumlich getrennt und ergänzen sich. Auch achtet Signeyrole darauf, dass nie zwei Bildebenen auf einmal die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das kluge Bilddesign macht „Cassandra“ optisch zu einer angenehmen Wucht.
Wo die Oper ihre eindeutige Schwäche hat, ist beim Text. Das Libretto (Matthew Jocelyn) ist überladen mit Ideen, Konzepten und Theorien: über Zeit, Wiedergeburt, antike Mythen, Prophezeiung, Kinderkriegen ja/nein?, Tod, Liebe, und ob Comedy oder Anketten der bessere Aktivismus ist.
Ständig wird verkopft geplaudert, was gleich mehrere Probleme macht. Erstens hat man vor lauter Übertitellesen schnell mal die Bühne vergessen. Zweitens wird so das Emotionale – die Stärke von Opern – vom Intellektuellen überschattet. Zeitweise möchte man sich fragen, warum dieser TED-Talk eigentlich so viel Musik braucht.
Drittens machen es die ungewöhnlich textreichen Passagen den Sänger*innen schwer, durch das Flirren des Orchesters durchzudringen. Obwohl Dirigentin Anja Bihlmaier das Orchester zurücknimmt: Man hört den Gesang manchmal einfach nicht – besonders wenn Foccroulle die Instrumentierung an textreichen Stellen ausgerechnet anschwillen lässt, anstatt den Stimmen den Vorrang zu geben.
Wenn die Geschichte sich wiederholen muss, so die Idee am Ende, dann könnte es doch sein, dass es beim zweiten Mal besser wird, oder etwa nicht? Im Gegensatz zur trojanischen Prophetin hat die heutige Wissenschaftlerin wenigstens ein Publikum. So spricht Cassandra schließlich Sandra Mut zu, als beide sich durch Zeit und Raum reisend begegnen. Eine schöne Message – die man vielleicht, anstatt sie zu hören, auch gerne gefühlt hätte.
„Cassandra“. Staatsoper, 25. Juni, 3. Juli, 11. Juli, je 19.30 Uhr
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