: Die sanfte Wut des Malcolm Little
Die Autobiographie von Malcolm X ist mehr als das Buch zum Spike-Lee-Film ■ Von Michael Sontheimer
Für dogmatische Alphabeten mag es anstößig erscheinen, wenn ein erfolgreicher Film die Renaissance eines vergessenen Buches hervorruft. Aus einem pragmatischeren Blickwinkel heraus betrachtet, ist es jedoch ein Segen, daß Spike Lees Zelluloid- Epos „Malcolm X“ gleich mehrere Bücher wieder auf die Ladentische befördert hat, die das außergewöhnliche Leben dieser wiederentdeckten Symbolfigur des schwarzen Amerika zum Gegenstand haben.
Unter dem guten Dutzend Malcolm-X-Titeln, die in den meisten New Yorker Buchhandlungen in einem eigenen Regal zu finden sind, ist „The Autobiography of Malcolm X, as told to Alex Haley“ das mit Abstand beeindruckendste. Malcolm X hat diese Autobiographie nicht selbst geschrieben, ihr Rohstoff waren vielmehr Dutzende von langen und anfangs schwierigen Gesprächen mit dem afroamerikanischen Autor Alex Haley. Haley, der später mit seinem Roman „Roots“ Berühmtheit erlangen sollte, hat aus diesen Interviews einen über vierhundert Seiten langen Text montiert, der mehr ist als Biographie; er ist ein fesselndes Dokument der Geschichte des schwarzen Amerika der dreißiger bis sechziger Jahre.
Das Leben des Malcolm Little war unstet von Anbeginn an. Kurz nachdem er am 19. Mai 1925 in Omaha, Nebraska, geboren wurde, zog seine Familie nach Milwaukee. Ku-Klux-Klan-Männer hatten die Familie bedroht und beschuldigten den Vater, er würde die „Neger“ aufhetzen. Malcolms Vater, ein baptistischer Prediger, war Anhänger Marcus Garveys, der glaubte, die Schwarzen könnten in der Neuen Welt niemals Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstachtung erreichen, und der deshalb für eine Rückkehr in die Heimat Afrika plädierte.
Malcolm ist sechs Jahre alt, als sein Vater von Weißen ermordet wird; sie schlagen ihm den Schädel ein und legen den Schwerverletzten auf die Schienen der Straßenbahn, die ihn überrollt. Wenn Malcolm X vom Tod seines Vaters spricht, fügt er hinzu: „Ich habe immer geglaubt, daß auch ich eines gewaltsamen Todes sterben werde.“ So sehr sich die Mutter auch müht, die Familie rutscht unaufhaltsam in die Armut und sie selbst zunehmend in Wahnzustände. Malcolm wird in ein Heim gesteckt, avanciert zum exzellenten Schüler, doch als ihm ein Lehrer sagt, daß er es sich als nigger lieber aus dem Kopf schlagen solle, Anwalt werden zu wollen, vollzieht er zunächst unbewußt den Bruch mit der weißen Gesellschaft. In Boston genießt er es, fast ausschließlich unter Schwarzen zu sein, und als er zum ersten Mal die Straßen und Bars von Harlem sieht, fühlt er sich wie narkotisiert. Eine weiße Geliebte bringt ihm Status, und er wird zum hustler. Er arbeitet für illegale Lotterien, verkauft Marihuana und lernt so die großen schwarzen Musiker kennen: Duke Ellington, Billy Hollyday, Lionel Hampton und viele andere. Er wird von Kokain abhängig und ist als „Detroit Red“ bekannt. Schließlich gründet er eine Einbrecher-Gang. Und es kommt, wie es kommen muß: Die Bande wird geschnappt. Im Februar 1946 wird Malcolm X zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Er ist gerade mal zwanzig Jahre alt.
Das Leben des Malcolm Little– und das ist es, was seine Biographie so faszinierend macht – ist von dramatischen Wandlungen geprägt. Aus dem unwissenden Landjungen wird ein mit allen Wassern gewaschener Ghetto-Ganove, doch noch weitaus größer ist die Wandlung, die sich im Gefängnis vollzieht. Er fängt an, richtig schreiben zu lernen. Mit Hilfe eines Lexikons erweitert er mühsam seinen hustler slang und entwickelt einen Hunger nach Wissen, der ihn nicht mehr verlassen wird. Ein Mitgefangener bringt ihm die Lehren Elijah Muhammeds nahe, die der „Black Nation of Islam“. Es sind dies neben einer eigenwilligen Variante des Islam auch rassistische Dogmen, welche von der ursprünglichen Überlegenheit der schwarzen Rasse ausgehen. „Ich entschloß mich, den Rest meines Lebens der Aufgabe zu widmen, dem weißen Mann etwas über ihn selbst zu erzählen – oder zu sterben.“
Malcolm Little wird 1952 entlassen und nennt sich alsbald Malcolm X – um zu demonstrieren, daß er den Namen seiner von Sklavenhändlern nach Amerika verschleppten Vorfahren nicht kennt. Er lebt asketisch, ißt kein Schweinefleisch, verachtet die „Onkel Toms“, die auf Integration setzen. Malcolm X wird Minister der „Black Muslims“ und sorgt dafür, daß seine Organisation zu einer einflußreichen Kraft in der schwarzen community wird. Sein außergewöhnliches rhetorisches Talent, sein demagogisches Auftreten und sein bedingungsloser Einsatz für die sozialen und politischen Belange seiner Brüder und Schwestern machen ihn bald zu einer bei Weißen gefürchteten Figur.
Malcolm X reist von einem Vortrag zur nächsten Talkshow. Und er drückt das aus, was viele Schwarze fühlen, aber nicht in Worte fassen können. Bei Malcolm X verbindet sich die Wut auf die Verhältnisse mit einem tiefen Ernst. Auch wenn er nicht direkt zur Gewalt oder zum bewaffneten Kampf aufruft, wie es dann Ende der sechziger Jahre die „Black Panther“ taten, wird er zum Antipoden Martin Luther Kings und anderer schwarzer Bürgerrechtler. Während diese erklären, mit gewaltfreiem Protest ließe sich die Gleichberechtigung erstreiten, glaubt Malcolm X weder an den Sinn noch an einen Erfolg schwarzer Integration. Die unpräzise Idee eines schwarzen Separatismus ist jedoch Schwachpunkt seiner Position. Gleichwohl hat er – von heute aus betrachtet – mit seiner Skepsis gegenüber der Integration recht behalten. Mit dem Fatalismus in den Gettos, dem Fehlen politischer Köpfe, welche dieser tiefen Frustration eine radikale Sprache verleihen könnten, läßt sich auch erklären, warum Malcolm X heute wieder zu einer Ikone der rapper und ghetto kids wurde.
Wenn Malcolm X Anfang der sechziger Jahre durch Harlem geht, muß er immer wieder Autogramme geben. Je mehr ihn Weiße als Prediger des Hasses verteufeln, um so beliebter wird er bei den Schwarzen – allerdings nicht bei der Führung der Black Muslims. Neider intrigieren gegen ihn, und nach einem harten Kommentar zum Tode John F. Kennedys verbietet ihm Elijah Muhammed jede öffentliche Äußerung.
Malcolm X trennt sich von der Organisation, bleibt jedoch Muslim bzw. wendet sich dem arabischen Islam zu, pilgert nach Mekka und wird er in mehreren afrikanischen und arabischen Staaten von Ministern und Präsidenten hofiert. Wie seine Erfahrungen jenseits der hermetischen Welt der Black Muslims ihn zu einer Revision seines politischen Denkens brachten, zeigen seine letzten Reden. „Heute sind meine Freunde schwarz, braun, rot, gelb und weiß“, bekennt er im letzten Kapitel seines Buches. Einer weißen Studentin hatte er einmal auf die Frage, was sie tun könne, um seinen Kampf zu unterstützen, geantwortet: „Nichts“. Jetzt bereut er diese Zurückweisung und definiert den Rassismus als gesellschaftliches Problem, unter dem nicht nur Schwarze, sondern auch ein Teil der Weißen leidet, und das es gemeinsam zu lösen gilt.
Sein Haus brennt nach einem Brandanschlag ab. Es gibt Hinweise darauf, daß die Black Muslims dahinterstecken, doch das FBI, das ihn bespitzelt, hat kein Interesse daran, ihn zu schützen. Als er kurz darauf, am 21.2.65, auf einer Versammlung in Harlem das Publikum mit den Worten: „Asalaikum, brothers and sisters“ begrüßt, springen drei Schwarze auf, die später als Black Muslims identifiziert werden. Sie beginnen wild auf ihn zu schießen. Malcolm Little bricht tödlich getroffen zusammen.
Die Schwarzen Amerikas haben eine einzigartige Stimme verloren, eine Persönlichkeit, deren Entwicklung noch lange nicht abgeschlossen war, von der sich gerade nach seiner Abwendung von den Black Muslims vieles erhoffen ließ. „Ich erwarte nicht, daß ich noch lange genug lebe, um dieses Buch in seiner endgültigen Form zu lesen“, sagt er auf einer der letzten Seiten. Es ist ein schwacher Trost, daß wir es heute lesen können – und sollten.
„The Autobiography of MalcolmX, as told to Alex Haley“. Ballantine Books, New York, 538 Seiten, 12US-Dollar
„Malcolm X speaks“, Selected Speeches and Statements. Grove Weidenfeld, New York, 226 Seiten, 8,95 US-Dollar
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen