: Die oben können nicht mehr!
■ Wahlfälscher neuer SED-Chef / Ein fait-accomplis der Politbürokratie
Egon Krenz ist Nachfolger Erich Honeckers in den Ämtern des Generalsekretärs der SED und als Staatsratsvorsitzender präsentiert worden. Das hat das Zentralkomitee der SED am Mittwoch auf einem überraschend einberufenen Plenum beschlossen. Aus der Sicht derjenigen, die auf eine reformerische Wende in der DDR hoffen, ist das eine betrübliche Entscheidung. Der 52jährige Krenz, von Beruf Lehrer, hat seine Karriere in der FDJ gemacht. Mit drei Jahren Unterbrechung, 1964 bis 1967, als er die Parteihochschule in Moskau besuchte, war Krenz fast 20 Jahre Mitglied des Zentralsekretariats der FDJ, 1974 bis 1983 als deren Vorsitzender. 1983 holte ihn Honecker dann ins Politbüro und baute ihn als seinen Wunschkandidaten für die Nachfolge auf. Krenz war dort zuständig für die Bereiche Jugend, Sport, Sicherheit und Kaderfragen. In diesem Jahr war er unter anderem dadurch unangenehm aufgefallen, daß er für die Bekanntgabe des gefälschten Wahlergebnisses bei den Kommunalwahlen im Juni zuständig war, die für viele das Faß zum Überlaufen brachten. Der „Stasi“, dessen Übergriffe auch unpolitische DDRler nach dem 6.Oktober in Empörung versetzten, fiel in seinen Verantwortungsbereich. In den letzten Wochen hat er sich zusätzlich als Hardliner zu profilieren versucht, indem er einen demonstrativen China -Besuch bei den dortigen „Sicherheitskräften“ absolvierte.
Als mit der Leipziger Demonstration am 9.Oktober klar war, daß die Lage in der DDR mit Drohungen und auch mit Repressionsmaßnahmen aktuell nicht mehr unter Kontrolle zu bekommen ist, kursierten in Ost-Berlin plötzlich Gerüchte, Krenz sei es gewesen, der eine Eskalation der Gewalt verhindert habe. Offenbar war das ein Versuch, ihm schnell noch ein versöhnlicheres Image zu verpassen. Daß das von den DDR-Bürgern akzeptiert wird, darf man bezweifeln.
Die formelle Entscheidung über die Wahl von Politbüromitgliedern und Generalsekretär liegt bei den 163 Vollmitgliedern des Zentralkomitees. In der Regel segnet dieses Gremium die Entscheidungen ab, die ihm vom Politbüro vorgelegt werden. Das scheint auch jetzt so gewesen zu sein, obwohl diesmal die Einhaltung der Regel überrascht. Hatte sich doch in den letzten Monaten das Berliner Zentrum der SED zunehmend von der Realität entfernt. Symbolischen Ausdruck - auch die Parteimitglieder tief und negativ beeindruckend - fand das in Honeckers Jubelrede zum 40.Jahrestag am 7.Oktober. Doch wegen der Fluchtwelle und des demonstrativen Aufbruchs von Hunderttausenden ins Innere der DDR wurde die Notwendigkeit, politische Führung wiederherzustellen, immer drängender.
Die Bezirkssekretäre der SED sind dichter an der Realität als die Führung in Berlin. Deshalb fand bereits Anfang der vergangenen Woche eine erweiterte Sitzung des Politbüros statt, an der diese Funktionäre teilnahmen. Als Ergebnis wurde jene „Erklärung“ veröffentlicht, die ein Umschwenken der SED hin zu einer vorsichtigen Dialog- und Reformpolitik signalisierte.
Daß das nicht genügte, wurde in den letzten Tagen zunehmend deutlich. Wie die Lage sich aus der Sicht der Partei darstellte, gibt eine gestern in der 'Jungen Welt‘ veröffentlichte „Erklärung im Präsidum des Komitees für Unterhaltungskunst“ wider: „Die entschlossene, einheitliche Führung unserer Gesellschaft durch die Partei der Arbeiterklasse wäre in dieser Situation notwendiger denn je.“ Statt dessen war das eine Führung, die durch einen starrsinnigen Greis repräsentiert wurde, der zu den das ganze Land bewegenden Problemen schlichtweg nichts zu sagen hatte.
Man kann vermuten, daß - wie schon in der vergangenen Woche - Sachsen wieder den Ausschlag gegeben hat. Jene 150.000 Menschen, die in Leipzig am Montag demonstriert haben, müssen der Führung endgültig klargemacht haben, daß diese Krise nicht mehr auszusitzen ist. Daß insbesondere der Druck seitens jener SED-Funktionäre, die damit unmittelbar zu tun haben, den Ausschlag gegeben haben, daß das eigentlich für Ende November vorgesehene Plenum vorgezogen wurde, ist zu vermuten. Krenz war der Kandidat der Berliner Politbürokratie. Dieser engere Zirkel hat angesichts des drohenden Aufstands in der eigenen Partei offenbar zumindest zu taktischer Handlungsfähigkeit zurückgefunden. Sie haben allem Anschein nach die Reformer regelrecht überrumpelt: Nicht nur der Termin des ZK-Plenums, das frühestens für nächste Woche erwartet wurde, kam überraschend. Aufschluß über den Stand innerparteilicher Demokratie gibt auch der Umstand, daß gestern mittag bereits 15 Minuten nach Bekanntgabe der Tatsache, daß ein ZK-Plenum stattfindet, die Wahl von Krenz gemeldet wurde. Das heißt, es wurde nicht lange diskutiert - ein fait-accomplis des alten Politbüros. Das bedeutet zugleich, daß erst über die Person entschieden wurde, ohne über die fälligen Reformprogramme auch nur debattiert zu haben. Hier mag sich allerding die in langen Jahren bewiesene Anpassungsfähigkeit des Genossen Krenz erweisen - er wird auch eine solche Politik mittragen, solange es dem Machterhalt nützlich ist. Und zumindest in den gegenwärtigen Situation wird es opportun sein, sich als Repräsentant einer moderaten Reformpolitik darzustellen.
Ganz überraschend kam der Rücktritt Honeckers nicht. Willi Brandt hatte von seinem Besuch bei Gorbatschow in Moskau die Erkenntnis mitgebracht, daß der 18.Oktober in die Geschichte als der Tag eingehen werde, an dem die „beginnende Ummöblierung“ der politischen Verhältnisse in der DDR sichtbar geworden sein wird. Daß er - und seine sowjetischen Gesprächspartner - allerdings dabei an Krenz gedacht hätten, das kann man bezweifeln.
Bereits vorgestern mehrten sich die Zeichen dafür, daß größere Veränderungen bevorstehen. Die „Aktuelle Kamera“, die Hauptnachrichtensendung des DDR-Fernsehens, ging plötzlich dazu über, die Zuschauer über das zu informieren, was im eigenen Land passiert. Die Leipziger Demonstration vom Montag wurde auf dem Bildschirm gezeigt. Berichtet wurde, daß sich in der Berliner Humboldt-Universität 6.000 StudentInnen versammelt hatten, um über gesellschaftlichen Dialog, Reisemöglichkeiten und eine eigene Studentenzeitschrift zu diskutieren (s. Korrespondentenbericht auf S.3).
Für DDR-Verhältnisse eine Sensation war auch ein Interview mit dem Generalstaatsanwalt, Günter Wendland, über die Anzeigen von DDR-Bürgern wegen der polizeilichen Übergriffe im Umfeld des 7.Oktober. Obwohl aus seiner Sicht die Polizei und Staatssicherheit aus Unschuldslämmern besteht, sagt er doch immerhin zu, daß diese Anzeigen „überprüft“ würden.
Auch von seiten der anderen „Blockparteien“ hat sich der Druck in Richtung schneller Veränderungen verstärkt. Günter Gerlach, der Vorsitzende der Liberaldemokraten, sagte in einem Interview mit der „Aktuellen Kamera“ am Dienstag, „morgen oder übermorgen“ müßten Entscheidungen für „tiefgreifende Veränderungen“ fallen. Eine Vorstandssitzung der LDPD verabschiedete am gleichen Tag ein Kommunique, in dem gefordert wurde, die Gründe für die Ausreisewelle „vor allem bei uns zu suchen“. Es forderte „generelle Reisemöglichkeiten“ und Wiederaufnahme von Ausgereisten „ohne Diskriminierung“. Die Liberalen verlangten, die SED solle ihre „führende Rolle (...) auf politischem Wege verwirklichen, ohne Administration und ohne Übernahme staatlicher Aufgaben“.
Die Zeitung der LDPD 'Der Morgen‘ veröffentlicht eine Stellungnahme von Komponisten und Musikwissenschaftlern zu aktuellen Fragen. Darin wird unter anderem die „pauschale, diffamierende Berichterstattung und Kommentierung über Demonstrationen“ kritisiert. Die demonstrierenden Bürger hätten an sozialistischer Entwicklung mit ihren Vorstellungen teilhaben wollen, seien aber fatalerweise durch die Blockade der Medien auf die Straße geleitet worden, „als den letzten möglichen Ort von Öffentlichkeit“. Berichterstattung in „unseren“ Medien würde den gewaltlosen Demonstranten wie den Ordnungskräften Schutz bieten vor verzerrender Darstellung.
Die gleiche Zeitung veröffentlichte die seit einem Monat in der DDR bei zahlreichen Rockveranstaltungen verlesene Protestresolution namhafter Musiker, die inzwischen von über 3.000 Künstlern unterschrieben worden ist, erstmals im Wortlaut.
Das FDJ-Organ 'Junge Welt‘ hatte sich bisher, wie aus einem Bericht der Zeitung hervorgeht, auf Anweisung des FDJ-Chefs Eberhard Aurich (der selbst wieder Krenz untersteht) geweigert, den Text zu veröffentlichen. In der Resolution ist die Rede von einer „unerträglichen Ignoranz der Partei und Staatsführung“, die an einem „starren Kurs“ festhalte. Sie beklagt den „massenhaften Exodus vieler Altersgenossen“ und fordert die Anerkennung „basisdemokratisch orientierter Gruppen“. Die Musiker fordern eine „Änderung der unaushaltbaren Zustände“ und betonten: „Dieses unser Land muß endlich lernen, mit andersdenkenden Minderheiten umzugehen, vor allem dann, wenn sie vielleicht gar keine Minderheiten sind.“
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