: Die neue Semantik der Sicherheit
Grenzen verlieren als Kategorie der Sicherung an Bedeutung, an ihre Stelle tritt die innerstaatliche Überwachung entlang dem Kriterium „Ethnizität“ / Der Verlust äußerer Feinde geht einher mit der Ausweitung polizeilicher Funktionen ■ Von Didier Bigo
Sicherheit von Staaten bedeutete immer schon Kontrolle von Völkern. Kontrolle der Grenzen, um äußere Feinde abzuwehren, Kontrolle, um die Souveränität des Staates gegenüber dem eigenen Volk durchzusetzen. Was aber geschieht, wenn die Agenturen des Staates angesichts der Aufgabe versagen, den Bevölkerungsstrom, der sich jeden Tag über die Grenzen bewegt, zu erfassen, zu filtern, gegebenenfalls abzublocken? Welche neue Beziehung entwickelt sich dann zwischen Staat, Grenze und Sicherheit?
Der Anspruch des modernen Staates, alleinige Quelle von Macht und Herrschaft zu sein, kann nur durchgesetzt werden, wenn seine Grenzen im Prinzip undurchlässig sind. Aber heutzutage ist die Kontrolle von Grenzübertritten zu Land unmöglich, wenn wir gleichzeitig Handel und Wachstum der westlichen Demokratien aufrechterhalten wollen. Mehr und mehr werden Grenzkontrollen symbolisch. Sie gelten weiter als Abgrenzungslinie politischer Identitäten, aber sie büßen ihre Funktion ein, die eigene Bevölkerung gleichzeitig zu schützen und im Käfig zu halten. Die westlichen Demokratien müssen aus ökonomischen (und manchmal aus ideologischen) Gründen „offen“ sein. Wenn wir die Beseitigung interner Grenzkontrollen in der EU diskutieren, so geht es dabei nicht nur um die technischen und organisatorischen Probleme der Verlagerung der Kontrollen von den internen zu den Außengrenzen der Gemeinschaft. In Frage steht ein neues Konzept von Sicherheit, das innere und äußere Belange vermischt.
Die Mechanismen der Grenzkontrolle sind heute nicht mehr eng mit dem „Territorium“ verknüpft. An dessen Stelle tritt das Kriterium der „Ethnizität“. Man kann von einer Entterritorialisierung der Grenze sprechen. Die Kontrolltechniken nehmen immer mehr den Charakter der Überwachung an. Staatsbürgerschaft wird weniger wichtig als Einheitlichkeit im way of life und die Hautfarbe. Die Reform der Zoll- und Einwanderungsbestimmungen wie die Regularien der Grenzpolizeien gehen in den europäischen Staaten sämtlich in einer Richtung. Die Kontrollen werden immer selektiver, sie gründen sich mehr und mehr auf ethnische und rassische Merkmale. „Weiße“ Europäer werden ausgenommen, während die „anderen“, die mit der dunklen oder schwarzen Haut, im Netz hängenbleiben. Die soziale Einbildungskraft produziert das Bild des Ausländers, der kontrolliert werden muß, der potentiell „gefährlich“ ist. Kontrolle wird nicht länger egalitär und auf das Individuum bezogen gehandhabt. Ihr Ziel ist die Identifikation potentiell gefährlicher Gruppen. Das ist die logische, wenngleich nicht ausgesprochene Konsequenz des Schengener Abkommens.
„Innen“ und „außen“, die Identitätsgrenzen, korrespondieren nicht länger mit der Staatsgrenze. Das bringt nicht nur die Ankommenden durcheinander, sondern auch die Einheimischen. Waren die doch gewohnt, von einer asymetrischen Beziehung zu den „anderen“ auszugehen, ohne sich zu fragen, ob die Polarisierung zwischen „wir“ und „ihnen“, die den Immigranten in einen Fremden verwandelt, legitim ist. Eine neue Erscheinung, die das System der Wahrnehmung, das auf der Übereinstimmung von Identität, Mehrheit und Staatsbürgerschaft gründet, in Frage stellt. Nationale Identität wird nicht länger durch mehr oder weniger gewaltsame Nationalisierung der Bevölkerung innerhalb der Staatsgrenzen bewirkt. Es war diese Form von Identität, die eine reale symbolische Funktion erfüllte, erlaubte sie der Mehrheit doch, sich als zentrale und integrierende Größe zu denken. Diese Annahme büßt an Evidenz ein. Es reicht nicht aus, sich in Erinnerung zu rufen, daß Nationen wie Frankreich immer schon Einwanderungsländer waren und daß die französische Nation immer schon Schwierigkeiten hatte, sich den Grenzregionen aufzuzwingen. Man muß sich darüber Rechenschaft ablegen, daß der Einsturz des nationalen Konzepts anderswo herkommt und daß das Problem der Grenzkontrollen aus einer Erschütterung der Beziehungen zwischen dem Staat und dem Transnationalen herrührt.
Die Globalisierung der Ökonomie, der Massenkommunikation und das weltweite Reisen haben neue soziale Beziehungen geschaffen, innerhalb derer die Einzelnen zunehmend zu „internationalen Akteuren“ werden. Wir haben die Resultate der „Abstimmung mit den Füßen“ gesehen, der Wahl der Option „Exit“, um Albert Hirschmanns Wort zu gebrauchen. Wir wurden Zeugen einer Implosion von Machtstrukturen, die als unzerstörbare galten. Aber es geht nicht nur um den Zusammenbruch der östlichen Regime. Der gegenwärtige Staat, demokratisch oder nicht, weiß nicht, wie er angesichts der Bevölkerungsbewegungen über seine Grenzen handeln soll. Diese Bewegung hat Ausmaße angenommen, die Parolen wie „Schotten dicht!“ illusorisch machen. Aber Regierungsrhetorik und administrative Routine erschöpfen sich in Zwangsmaßnahmen. Die Immigration wird mehr und mehr nur noch unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit gesehen. Ökonomische, soziale und kulturelle Fragestellungen werden vernachlässigt. Immigration tendiert dazu, zum Katalysator aller unser Probleme zu werden. Und man glaubt (oder will uns glauben machen), daß die Stabilisierung der Einwanderung, ihr faktischer Stopp, all diese Probleme lösen würde. Ein solches Konzept führt unweigerlich dazu, die transnationalen Migranten zu Sündenböcken zu machen.
Überall sind prosperierende Gesellschaften dem folgenden Widerspruch ausgesetzt: einerseits wollen sie die freie Bewegung von Kapital und Arbeit fördern, andererseits wollen sie die Migration einschränken, die sie selbst durch die weltweite Verbreitung ihres Lebensstils gesät haben. Ihre Politik ist oft chaotisch, weil sie entgegengesetzten Erfordernissen gerecht werden will. Aber sie wird stets kanalisiert durch die Vorstellung, daß Kontrolle unverzichtbar, angesichts der Weltunordnung unerläßlich ist. Statt nach Wegen der Kontrolle zu suchen, die die Menschenrechte respektierten, treten die Politiker verschiedener Nationen in einen edlen Wettstreit, traditionelle Kontrollformen zu verstärken oder neue, undemokratische zu begründen. In jedem dieser Fälle führt eine einseitige, zerstückelte Wahrnehmung des Problems zu Lösungen, mit denen sich der jeweils nächste Wahlkampf bestreiten läßt. Dadurch, daß sie alle das gleiche tun, glauben die Politiker, weise zu handeln.
Um ihrer Angst zu begegnen, haben die westlichen Regierungen eine schwierige, komplexe Realität in ein simples Schema gepreßt, das ihnen erlaubt, in die alten Fußstapfen zu treten und das auch noch als neue Politik zu verkaufen. Mit Hilfe einer neuen Semantik (Grauzone, Migrationswelle, weltweite Mafia, Scheinflüchtlinge, Ausländerkriminalität) wird ein neuer Feind identifiziert. Den Medien- Ereignissen wird Bedeutung gegeben, durch Minderung der Unsicherheit wird Schutz und Sicherheit suggeriert, dies, obwohl die Erfindung eines neuen, weltweiten Feindes auch neue, weltweite Angst hervorrufen kann. Wir sehen, daß der europäische Diskurs von der Freizügigkeit der Völker wegführt und sich in einer Richtung bewegt, die nur noch das Sicherheitsdefizit beschwört. Die Überschneidung interner und externer Sicherheitsfragen bringt eine gemeinsame Ideologie hervor. Sobald diese Ideologie zur vorherrschenden wird, verschärft sich der Kampf zwischen den verschiedenen im Bereich der Sicherheit tätigen Agenturen, und ihre je spezifische Rolle wird immer unklarer.
Das Militär und die nationale Identität wurden lange Zeit nahezu gleichgesetzt. Den äußeren Feind zu verlieren beschwor deshalb den Verlust nationaler Identität herauf. Ohne Feind kann man leicht in Melancholie versinken, denn er ist „Kapital für die Zukunft, Kitt für den Zusammenhalt der Gruppe und ein Schlagstock gegen jede Opposition“ (Pascal Bruckner). Um Identität im Militärischen wiederzugewinnen, müssen verschiedene Risiken synthetisiert, müssen imaginäre Verbindungslinien zwischen Fakten geschaffen werden, die nicht zusammengehören. Die neue Matrix wurde schnell gefunden. Die Bedrohung aus dem Osten wird recycelt, jetzt als Bedrohung aus dem Süden. Verwendet wird das gleiche Argumentationsschema: Wir haben Diktatoren vor der Haustür, die über ein wachsendes Waffenarsenal verfügen. Ihrer revolutionären Ideologie wegen bilden sie einen Block gegen die liberalen Demokratien des Westens. Und: Sie haben schon jetzt eine „fünfte Kolonne“.
Das Szenario der Bedrohung aus dem Süden, des clash of civilizations, die angenommene Infiltration uns fremder Werte durch Migration und Asyl erlauben es, das in der Zeit des Kalten Krieges erworbene Know-how der Krisenbewältigung zu einer neuen Sicherheitsdoktrin zu verdichten. Die Armee sieht ihre Funktion nicht mehr im Rahmen traditioneller, zwischenstaatlicher Konflikte oder als Instrument der Blockkonfrontation. Sie hat sich zuerst der Antiguerilla-Strategie zugewandt, dann dem Antiterrorismus, internationalen Polizeioperationen, die sich als friedenserhaltend stilisieren, dem Schutz der eigenen Staatsbürger, schließlich „humanitären Aktionen“. Aber das Militär ist nicht die einzige Kraft, die antreten will, die neuen Aufgaben zu bewältigen. Das Militär muß mit der Polizei rechnen und muß versuchen, die Interessen abzugrenzen. Die feindliche Bedrohung tritt nicht massiv auf, weshalb die Gegenstrategie nicht in der Massierung von Gegenkräften bestehen kann. Der Feind kann nicht eindeutig und sofort identifiziert werden. Er ist eingesickert, er ist zugleich „innen“ und „außen“. Hier liegt die Ursache der Malaise für die Militärs.
Der Polizei hingegen bietet sich eine großartige Chance. Sie braucht nicht mehr nur Ordnungshüter im eigenen Land spielen. Lange Zeit hatte die Polizei von sich ein Selbstbild, das sie klar vom Militär abgrenzte – Folge ihrer Ordnungsrolle, des eingeschränkten Waffengebrauchs etc. Jetzt sieht sie sich angesichts der Gefahren, die die Bevölkerung bedrohen, in einer Funktion, die der des Militärs ebenbürtig ist. Ihr „Know-how“ hinsichtlich der Zivilbevölkerung erscheint jetzt wertvoller als die Kenntnisse der Militärs. Das heißt: Die Differenz zwischen dem lokal begrenzten, gesellschaftlichen Wissen der Polizei und dem internationalen, politischen, „staatsmännischen“ Wissen der Sttreitkräfte existiert nicht mehr. Die Polizei ist jetzt im politischen Spiel engagiert und trägt wesentlich zur Bestätigung staatlicher Souveränität bei. Viele kriminalpolizeiliche Ermittlungen sind nicht lokal, nicht einmal mehr national begrenzt. Sobald Rauschgifthandel im Spiel ist, überspringen die Ermittlungen die Grenze. Ob es nun um den Kampf gegen den Terrorismus geht, um Drogen, gestohlene Autos oder Kunstwerke – die spezialisierten Einheiten, die früher Randerscheinungen waren und der traditionellen Polizei übergestülpt, müssen jetzt mit ihren ausländischen Kollegen zusammenarbeiten, wenn sie effektiv sein wollen. Die Innenministerien treiben eigene Außenpolitik und unterhalten eigene Kontakte jenseits von Interpol.
Von Zeit zu Zeit wurde es notwendig, außerhalb der geregelten Kooperation zu handeln, um, unter Verletzung der nationalen Souveränität der Nachbarn, grenzüberschreitende kriminelle Organisationen zu infiltrieren. Dies wiederum führte zu unstrukturierten Netzwerken der Polizei außerhalb der staatlichen Souveränität überall dort, wo sich die Polizei von politischen Rücksichtnahmen frei fühlt. Der Kampf gegen Terrorismus und Drogenhandel hat den polizeilichen Aktionsbereich zuungunsten des militärischen erweitert. Gleichzeitig haben die Geheimdienste neue Aktions- und Organisationsformen entwickelt, die die alte Arbeitsteilung innen/ außen überschreiten. Die Polizei ist zunehmend mit Fragen der Auslandsdienste befaßt, früher eine Domäne der Militärs.
So wendet sich die Polizei nach außen, das Militär nach innen, ohne daß beide sich jemals Rechenschaft über dieses Abweichen von ihrer früheren Mission gegeben hätten. Sie verstehen den Funktionswandel unter der schlichten Kategorie der Ausweitung ihrer bisherigen Tätigkeit. Wo die Aufgaben des Militärs und der Polizei sich überschneiden, im Kampf gegen den internationalen Terrorismus, bei Aktionen gegen Drogenproduktion und Drogenhandel, bei der Kontrolle illegaler Immigration und der Abschiebung von Flüchtlingen, entsteht ein gespanntes Verhältnis von Kooperation und Konflikt. Der internationale Charakter einiger Typen von Gewaltausübung und das Spiel rivalisierender Bürokratien führen zur gegenseitigen Durchdringung von Polizei und Armee. Sie münden in einem „Sicherheitskontinuum“, das die Welt des Krieges und des Verbrechens miteinander vereint.
Der Verfasser lehrt am Institut d'Études Politiques de Paris. Vortrag auf dem Kongreß der „International Political Science Association“, 21.–25.8.1994. Übersetzung und Kurzfassung: C.S.
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