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■ Die neue Qualität der laufenden TarifverhandlungenAbschied vom Korporatismus

Alles scheint seinen gewohnten Lauf zu nehmen. Die Tarifpartner gehen rhetorisch aufeinander los, die IG Metall bereitet Urabstimmung und Streik vor, die Arbeitgeber drohen mit Aussperrung – jeder kennt das eingespielte Ritual, das sich in gegenseitigen Schuldzuweisungen, Standhalteparolen und Mobilisierung der eigenen Beharrungskräfte erschöpft. Am Ende, nach zähen Verhandlungsrunden, sorgt dann doch noch ein Kompromiß dafür, daß die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen (Export-)Industrie nicht verlorengeht. Ein Fototermin mit kurzen Statements, das Hochrechnen des Erreichten für die jeweilige Klientel, das war's dann. Viel Lärm um nichts?

Nein, diesmal nicht. Denn alles deutet darauf hin, daß Walter Riester, seit Herbst IG-Metall-Vize, mit seiner Prognose Recht behalten wird: Die deutschen Arbeitnehmerorganisationen stehen vor den kompliziertesten Tarifauseinandersetzungen der Nachkriegszeit. Karl Marx ist tot, der Sozialismus für die nächsten Jahre geoutet – und die Gewerkschaften haben so wenig zu melden wie schon lange nicht mehr.

Diesmal proben nicht die maßlosen Gewerkschaften, sondern die Arbeitgeber den Aufstand. Viele Unternehmen wollen die Chancen der Krise nicht ungenutzt an sich vorüber ziehen lassen. Jetzt läßt sich am ehesten durchsetzen, was lange Jahre Tabu war – nämlich den Abbau tarifpolitischer und sozialer Errungenschaften. Ganz oben auf der Liste steht die Forderung nach einer Null-Runde bei Löhnen und Gehältern, die Streichung von Urlaubsgeld und Zuschlägen, gefolgt von flexiblen Arbeitszeitkorridoren und betrieblichen Öffnungsklauseln. Das Ziel von Gesamtmetall bei den laufenden Tarifverhandlungen ist es, ein neues arbeitspolitisches Regime zu installieren, das jederzeit flexibel und differenziert auf die betrieblichen Belange angewendet werden kann. Unter dem Strich soll eine Kostensenkung von 15 Prozent herausspringen – damit hat die Arbeitgeberorganisation die Erwartungen ihrer Mitglieder so hoch geschraubt wie nie zuvor.

Nicht nur die IG Metall leidet unter den zentrifugalen Kräften ihrer Mitglieder. Gut drei Viertel der 9.000 Metallunternehmen sind Kleinbetriebe mit unter 200 Beschäftigten. Seit Jahren opponieren sie gegen die moderate Tarifpolitik ihrer Verhandlungsführer aus der Großindustrie und drohen mit dem Austritt aus dem Verband. Noch einen Fehlschlag, wie nach dem Arbeitskampf in der ostdeutschen Metallindustrie vor einem Jahr, als die Arbeitgeber zwar hart durchgriffen, am Ende aber nur eine Härteklausel für vor dem Ruin stehende Ost-Betriebe in den Händen hielten, kann sich Gottschols Standesorganisation nicht noch einmal erlauben – sonst droht eine Erosion des gesamten Tarifsystems. Allein im letzten Jahr haben im Paradebezirk Baden-Württemberg zehn Prozent der Metallbetriebe den Arbeitgeberverband verlassen, um sich von allen Fesseln branchenweiter Verträge zu befreien. Und der Druck, dem Gesamtmetall aus den eigenen Reihen ausgesetzt ist, wächst. Bei weiteren Massenaustritten aus den Arbeitgeberverbänden müssen die Gewerkschaften fürchten, geradezu in den (flächen-)tariflosen Zustand getrieben zu werden. Schon lange liebäugeln Kapitalvertreter und Neoliberale mit dem Gedanken, möglichst bald die Tarifautonomie als eine Episode der Sozialgeschichte zu Grabe zu tragen.

Bei den derzeit stattfindenden Verteilungskonflikten geht es aber nicht nur um soziale Errungenschaften wie Karenztage, Urlaubsgeld oder Lohnerhöhungen, die Stück für Stück wieder abgebaut werden sollen. Angesichts eines immer brutaler werdenden globalen Standortwettkampfs läuft die neokonservative Offensive auf eine radikale Flexibilisierung, Deregulierung und Diffenrenzierung der industriellen Produktions- und Arbeitsbedingungen hinaus. Die Debatte um den gefährdeten „Standort Deutschland“ mag dies am besten verdeutlichen. Hans-Peter Stihl, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages, sprach schon im Herbst aus, wovon viele Unternehmer heute offensichtlich ausgehen: „Einen sozialen Frieden um jeden Preis können wir uns nicht leisten.“ Die Täter sind bereits ausgemacht: die am Korporatismus festhaltenden Gewerkschaften und der nicht mehr finanzierbare Wohlfahrtsstaat. Daß Lohnniveau und Sozialabgaben vor allem ein Instrument interner Verteilungskämpfe sind, der Wettbewerb zwischen den Industrienationen aber durch die Fähigkeiten ihres Arbeitskräftepotentials und die Qualität der Infrastruktur entschieden wird, scheint ihnen nicht geläufig zu sein.

All die Faktoren, die den auf langfristigen Erfolg und soziale Stabilität ausgerichteten „rheinischen“ Kapitalismus ausmachen, sind mehr oder weniger in Mißkredit geraten: hohe Löhne, Tarifautonomie, starke Gewerkschaften, eine kräftige Portion Sozialdemokratie und Wirtschaftsbeziehungen, die der Produktion Vorrang vor der Finanzwirtschaft geben. Das vielzitierte „Modell Deutschland“, das die ökonomische Modernisierung ohne größere Verwerfungen sozial verträglich und politisch reibungsarm organisierte, hat damit deutliche Risse erhalten, an denen auch sein Herzstück, nämlich der korporatistische Block aus Politik, Kapital und Arbeit zerbrechen könnte. Was mit der postfordistischen Akkumulationsrunde eingeläutet wird, ist der (langsame) Abschied von einheitlichen Lebens- und Arbeitsverhältnissen hin zur Differenz und legitimen wie legitimierten Heterogenität.

Der postfordistische Kapitalismus, da sind sich die Wirtschaftsexperten weitgehend einig, wird wesentlich durch eine Entkoppelung von Wachstum und Einkommen, von Wachstum ohne positive Arbeitsplatzeffekte geprägt sein. Alte Wachstumsmargen sind in weite Ferne gerückt und zudem aus ökologischen wie strukturellen Gesichtspunkten heraus nicht mehr unbedingt wünschenswert. Das stellt nicht nur die Tarifparteien, sondern vor allem die politische Klasse vor völlig neue Herausforderungen.

Es ist wohl unstrittig, daß angesichts der Krise, die im Kern eine Krise der auf Massenkonsum ausgerichteten Industriegesellschaft ist, Arbeitgeber wie Gewerkschaften mit ihrer alten Strategie einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik in einer Sackgasse gelandet sind. Nun wird wieder eingesammelt, was einmal verteilt wurde. Zwar sind einmal erreichte materielle Besitzstände noch lange kein Grund, diese ohne kritische Überprüfung als unantastbar zu erklären. Aber im Ernst: Würde VW heute niemand entlassen, wenn die Beschäftigten in den letzten Jahren auf Lohnsteigerungen verzichtet hätten? Und angesichts enger gewordener staatlicher Verteilungsspielräume und steigender Arbeitslosenzahlen rechnet sich gesellschaftlich schon lange nicht mehr, was mancherorts branchen- und betriebsbezogen gerade noch Sinn macht. Auch wenn es nicht die originäre Aufgabe der Tarifpolitik sein mag, die Tarifpartner müssen langsam erkennen, daß die Arbeitslosen mit am Verhandlungstisch sitzen. Unter dem Stichwort „Verteilungsoption“ geht es zwar mit dem Vorziehen der bereits ausgehandelten 35-Stunden- Woche erstmals auch um beschäftigungssichernde Maßnahmen. Eine wegweisende Strategie für eine gerechtere Verteilung von Arbeit läßt sich darin aber nicht erkennen, weil es dabei nur um eine Umverteilung innerhalb der noch vorhandenen Lohn- und Erwerbsarbeit geht.

Hier zeigt sich die ganze Crux: Wo nämlich der politische Gestaltungswille fehlt, ist die klassische Tarifpolitik, wenn sie als Büttel für soziale Probleme herhalten soll, schlichtweg überfordert. In dieser prekären Lage rächt sich vor allem, daß in der Wirtschafts- und Sozialpolitik schon lange keine Grundsatzdiskussion mehr stattfindet, obwohl gerade eine solche für den gesellschaftlichen Modernisierungsbedarf dringend notwendig wäre. Die Suche nach einer kohärenten Politik, die der Industriegesellschaft als eindimensionale Waren-Konsum-Wegwerf- Gesellschaft aus der Krise helfen könnte, ist weder bei der Regierung noch in der Opposition ein beherrschendes Thema. Statt dessen werden die Rezepte zur Krisenbewältigung immer einfacher: Lohnsenkung, Kürzungen des Sozialstaats, staatliche Beschäftigungsprogramme, Zweiter Arbeitsmarkt mit Niedriglöhnen, ja sogar Zwangsarbeit für Arbeitslose – so kehrt nicht nur mit über vier Millionen registrierten Arbeitslosen die unselige deutsche Vergangenheit wieder.

Die Tarifstrategen der Gewerkschaften sind nicht zu beneiden, wenn sie sich nun erstmals auf das fremde Terrain der Differenz begeben. Führt kein Weg am Weltmarkt vorbei, sind alte Positionen freilich nicht zu halten. Es stellen sich, wie im übrigen für die gesamte Arbeiterbewegung, oder was davon noch übrig geblieben ist, heute ganz neue Fragen. Wo bleibt die (Lohn-)Solidarität, wenn ein immer größer werdender Teil der Erwerbsbevölkerung mit immer geringer werdendem Arbeitslosengeld zu Hause sitzt? Genügt es da, wie es IG-Metall-Chef Klaus Zwickel tut, eine „Reallohnsicherung, die auch Arbeitsplätze schafft“, zu verlangen? Allzuviel fällt den Gewerkschaften derzeit nicht ein. Sie begnügen sich damit, mit einer zeitgemäßen Flexibilisierung den Standort Deutschland im globalen Wettbewerb stärken zu helfen.

Eines steht jedoch schon fest: Ein Arbeitskampf in dieser Situation würde nicht nur die ökonomische, sondern auch die gesellschaftliche Krise verschärfen – egal, wer am Ende als Sieger dasteht. Erwin Single

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