Die neue Bundesregierung : Weniger Stillstand wagen
Der künftige Bundeskanzler Olaf Scholz hat das Format und die Chance, mit der Ampel ein paar erträgliche Reformen hinzubekommen. „Fortschritt“ auf Höhe der Jahrhundertprobleme wird das eher nicht.
Von UDO KNAPP
30.11.21, taz FUTURZWEI | „Mehr Fortschritt wagen“ – diese Parole der neuen Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP leiht sich historisches Gewicht bei Willy Brandts erster Regierungserklärung 1969 und ihrem Motto „Mehr Demokratie wagen“.
Damals war die Bundesrepublik mit dem Rückenwind der antiautoritären Studentenbewegung auf dem Sprung, sich von der bleiernen Last der Naziverbrechen zu emanzipieren. Mit über 200.000 und überwiegend aus dem Umfeld der Studentenbewegung kommenden Neueintritten in die SPD und 42,7 Prozent der Stimmen bei der Bundestagswahl verfügte Brandt damals über einen gewichtigen Rückhalt für das offensive Heraustreten der Bundesrepublik aus dem das ganze gesellschaftliche Leben belastenden Schatten der Naziverbrechen. „Mehr Demokratie wagen“ markiert eine echte Zeitenwende und umschreibt den Beginn einer großen mentalen und realen Erfolgsgeschichte mit neuen geistigen Horizonten für die bürgerlichen Freiheiten in der Republik.
„Mehr Fortschritt wagen“ von Olaf Scholz hat kein vergleichbares geistiges Fundament in der Gesellschaft, weder was Aufbruchswillen angeht noch Unterstützung. Heute werden die Pflichten des politischen Gestaltens jeder Regierung bestimmt durch begründete und unbegründete Ängste wegen der Klimakrise, wegen des zwingenden ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft, wegen der Digitalisierung, der Globalisierung, also der Hardware des gesellschaftlichen Lebens. Dazu kommen antidemokratische Spaltungen in allen westlichen Demokratien, weltweit zunehmende Migration und dann auch noch obendrauf die den individuellen und gesellschaftlichen Alltag bestimmende Pandemie. Ein Gedanke, der die Herausforderungen zusammenbinden könnte, ein Bild, eine Erzählung oder irgendeine Priorisierung der zu lösenden Aufgaben gibt es bei der Ampel-Regierung nicht. Der Begriff „ Fortschritt“ jedenfalls bildet die zu bewältigenden Herausforderungen nicht hinreichend ab. Er ist darüber hinaus durch seinen vielfältigen ideologischen Gebrauch in den letzten zwei Jahrhunderten durchaus missverständlich und auch zurecht angstbesetzt.
Von einem echten Aufbruch kann keine Rede sein
Noch vor einem Jahr repräsentierten die Grünen mit ihrem Vorsitzenden Robert Habeck und ihrem Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann geistige Perspektiven und Pfade für einen Epochenaufbruch in ein ökologisches 21. Jahrhundert. Nach ihrer krachenden, selbstverschuldeten Niederlage wegen der ideologischen Verkürzungen ihrer Positionen, ihres Rückzuges in den grünen Mief blasser Rechthaberei, sitzen sie zu Recht mit der FDP am Katzentisch von Olaf Scholz.
Jetzt versuchen sie mit wohlbekannten Techniken der Politikverkaufe ihre Niederlage in einen Sieg umzuschreiben, sogar die Ampel als einen Aufbruch, als einen grundsätzlichen Neuanfang zu verkaufen. Aber von einem solchen Aufbruch kann keine Rede sein. Die Ampel ist nicht mehr und nicht weniger als die unter den gegebenen Umständen kaum besser aufzustellende Normalregierung. Die Gelegenheit, die Regierungspolitik mit den Grünen als neuer Volkspartei an der Spitze mutig neu aufzustellen ist erst einmal verpasst.
Nun geht es eben weiter mit einer Ampel, die bestimmt wird von Olaf Scholz. Ihre Botschaft lautet, dass sich zwar Vieles ändern muss, aber dabei doch alles beim Alten bleiben wird. Safety first trotz des Wandels anstelle mutigen Ausgreifens zu neuen Horizonten mit aktiv angenommenen Zumutungen, das ist das strategische Tool der neuen Regierung. Was dabei herauskommen kann, wo die Bundesrepublik nach den nächsten vier Jahren landen wird, das ist trotz vieler wohlklingender Ankündigungen völlig offen.
Die 178 Seiten des Koalitionsvertrages sind jedenfalls ein leeres, zumindest ein schwer lesbares Versprechen. Wie schon bei vielen vergleichbaren Papieren zuvor bietet auch dieses Programmpapier vor allem für die Linienpolizisten jeder Couleur und in allen politischen Lagern jede Menge benutzbares Material für den Nachweis, dass die Verfasser sich ja gar nicht an ihre einmal getroffenen Absprachen gehalten haben. Für die Bewältigung der politischen Alltagsaufgaben der Regierenden spielen solche Koalitionsverträge indes keine wesentliche Rolle. Die Wirklichkeit, die Tatsachen und die Finanzen zwingen alle Regierenden dann doch immer wieder zu ganz anderen Lösungen.
Die zu erwartenden Reformen werden die Jahrhundertprobleme nur unzureichend oder auch gar nicht adressieren
Auch die Streitereien darüber, wer für welches Ministerium den Unterschied macht, sind belanglos. Fachkenntnisse sind durchaus nicht schädlich, aber der Erfolg eines Ministers hängt entscheidend davon ab, wie und ob er mit einer Idee oder Mission die Apparate und die vielen hochqualifizierten Ministerialen, die ihm zur Verfügung stehen, dazu bewegen kann, für ihn und mit ihm an dieser Mission zu arbeiten. Das gelingt in einer Regierung stets nur wenigen, warum sollte das in der Ampel anders werden?
Bei der Vergabe der Regierungsämter spielten auch diesmal, wie schon immer bei den Grünen und heute auch bei der SPD, Lagerzugehörigkeit im internen Linienstreit und Identitätsrepräsentationen eine wichtigere Rolle als die politische Führungskraft. Cem Özdemir hat als bundesweit erfolgreichster Grüner seinen Wahlkreis mit 40 Prozent direkt gewonnen. Warum er Landwirtschaftsminister werden soll, wo er innenpolitisch in der Migrationsfrage oder auch außenpolitisch beim Kampf der Demokratien gegen die Diktaturen schon lange politischen Erfolg versprechende Akzente gesetzt hat, ist selbst dann nicht plausibel, wenn man die internen Logiken teilweise nachvollziehen kann.
Ach, es wäre doch so schön gewesen, wenn sich eine neue Regierung mit Mehrheiten im Rücken und unterstützt von der Gesellschaft an die Lösung der anstehenden Jahrhundertaufgaben machen würde. Stattdessen wird auch die neue Regierung von Problem zu Problem taumeln, hier und da den einen oder anderen modernisierenden Schritt machen – das normale demokratische Geschäft halt.
Aber immerhin … besser als überhaupt kein Schritt in die richtige Richtung sollte das „Ampeln“ allemal werden. Der künftige Bundeskanzler Olaf Scholz ist kein Willy Brandt, hat aber dennoch die Statur, das Format und die Chance, einen breit in die Gesellschaft wirkenden Führungsanspruch durch erträgliche Reformen hinzubekommen. Allerdings werden diese Reformen die Jahrhundertprobleme nur unzureichend oder auch gar nicht adressieren.
UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen.