: Die literarische Wundertüte
LITERATUR-NACHWUCHS Keiner der Kandidaten beim 21. Open Mike im Heimathafen hat bisher etwas veröffentlicht, die Ankündigungen sind kryptisch – aber mancher Nachwuchs-Sieger gewann später den Buchpreis
Zum 21. Mal steigt der „Internationale Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik“, kurz: Open Mike, im Heimathafen. Am Samstag starten die Auftritte um 14 Uhr, Sonntag geht es ab 12 Uhr weiter, nachmittags Preisverleihung. Am Rande gibt es Kolloquien und Schreibworkshops. Der Allitera Verlag publiziert die Texte als Anthologie, der Lieblingstext des Publikums erscheint in der taz. CVW
■ Open Mike: Heimathafen Neukölln, Karl-Marx-Str. 131, Sa 14 Uhr, So 12 Uhr, Eintritt frei
VON CATARINA VON WEDEMEYER
Nur 15 Minuten haben die Teilnehmer Zeit, um zu beweisen, dass sie die literarische Zukunft sind. Dann klingelt der Wecker. Am Sonntag kürt im Heimathafen eine Jury zum 21. Mal die Sieger des „Open Mike“ beim Internationalen Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. Dieser gilt längst als wichtigster literarischer Nachwuchspreis hierzulande, auch wenn über die Kandidaten wenig bekannt ist. Vor vielen Jahren las einmal eine unbekannte junge Autorin beim Open Mike – jetzt ist sie Buchpreisgewinnerin, und jeder kennt den Namen Terézia Mora. Karen Duve und Julia Franck gehören ebenfalls zu denen, die hier das erste Mal einem größeren Publikum bekannt wurden und danach groß herauskamen.
Am Samstag und Sonntag treten 20 Autoren im Heimathafen an, alle schreiben auf Deutsch, keiner hat je ein Buch veröffentlicht, und jung sind sie auch – teilnehmen dürfen nämlich nur Menschen unter 35. Über die Altersgrenze müssen sich die meisten der Kandidaten keine Sorgen machen. Katharina Korbach zum Beispiel. Sie ist 1995 geboren und damit nicht nur die jüngste Autorin des diesjährigen Wettbewerbs, sondern auch die einzige, von der man einen Text im Netz findet. Die Kurzgeschichte trägt den Titel „Schatten“. Sie beginnt in einem deutschen Wohnzimmer mit Kaffeeduft und Elternfragen. Aber dann geht es um ein Loch an der Wand und geheimnisvolle Pakete, die die Protagonistin einem noch geheimnisvolleren Nachbarn bringt. Die Geschichte verweilt in Andeutungen. Bevor der Leser den Plot auflösen kann, ist der Text schon vorbei. Zurück bleibt ein verstörender Einblick in die allzu trügerische Vorstadtidylle.
Das passt zum geheimnisumrankten Wettbewerb, bei dem die Unbekanntheit der Autoren zum Programm gehört. Nur auf dem Blog zur Veranstaltung (openmikederblog.wordpress.com) finden sich ein paar Statements. Als „Welt in der Welt“ definiert Stefan Hornbach Literatur. Der Autor studiert eigentlich Schauspiel und schreibt nur nebenher „mit Vorliebe Wunschzettel. Mit Widerwillen To-Do-Listen.“ Solche Aussagen vermitteln einen ersten Eindruck der Kandidaten, aber viel mehr auch nicht. Als Schauspieler hat Stefan Hornbach eine eigene Website, die meisten seiner Open-Mike-Kollegen bleiben hingegen bis zu ihren Auftritt trotz oder gerade wegen der Zitate im Blog ein Rätsel: „Literatur ist für mich, wenn man seinen eigenen Dialekt erfindet“, schreibt die Schweizerin Sabine Gisin. Einer ihrer literarischen Helden ist Calvin von Bill Watterson, sie hat offensichtlich Humor. Die Lieblings-Romanfiguren von Dmitrij Gawrisch zeugen von schwerer Kost: Neben Oskar Matzerath, dem Blechtrommler von Günter Grass, nennt er den Idioten von Dostojewski, Lew Myschkin, und Jelineks Klavierspielerin Erika Kohut. Dmitrij Gawrisch ist 1982 in Kiew geboren und dann in Bern aufgewachsen, seit 2010 lebt er in Berlin. Das Theaterstück, an dem er gerade schreibt, heißt „Mal was Afrika“. Der Blog zeigt dazu Fotos von jungen Männern mit Schriftstellerlocken, das ist alles. Mehr Informationen gibt es nicht, und das im Zeitalter der Überwachung! So erscheint der Wettbewerb als literarische Wundertüte.
Ein bisschen mehr erfährt man von den sechs Lektoren, die dieses Jahr die Texte aus den fast 680 Einsendungen ausgewählt haben. Ulrike Ostermeyer vom Arche-Verlag erzählt, dass es dieses Jahr insgesamt „viel um Angst, Schlaflosigkeit, Unruhe, Revolution und die Suche nach einem Sinn“ gegangen sei. Thomas Tebbe, Lektor vom Piper Verlag, war schon einmal an der Auswahl der Open-Mike-Texte beteiligt und wusste daher, was ihn erwartet: „Sehr viel Schwarzbrot und ein paar sehr interessante neue Stimmen.“ In der Form seien die Texte dieses Jahr experimentierfreudiger als in anderen Jahren, thematisch dominierten urbane Beziehungsgeschichten.
Nach dem zweitägigen Lesemarathon bestimmen die diesjährigen Juroren, Jenny Erpenbeck, Ulrich Peltzer und Raphael Urweider, am Sonntag drei Gewinner, einer der Preise geht an einen lyrischen Text. In der Liste der ehemaligen Juroren finden sich Namen wie Feridun Zaimoglu und Felicitas Hoppe, ein solches Urteil ist natürlich Gold wert. Neben ermutigenden Kommentaren erhalten die Preisträger auch insgesamt 7.500 Euro. Danach fahren sie auf Lesereise nach Frankfurt, Wien und Zürich. Der Allitera Verlag publiziert eine Anthologie mit allen Texten des Wettbewerbs. Und der Lieblingstext des Publikums erscheint in der taz.