■ Die kurdische Gesellschaft ist einem tiefgreifenden und systematisch betriebenen Auflösungsprozeß unterworfen: Völkermord in Kurdistan
Zwölf Jahre Krieg nutzen die Wahrnehmungsfähigkeit auch des sensibelsten Beobachters ab. Schlimmer, die Erfolglosigkeit der Zeitungskommentare und die Ohnmacht der Schreibtischappelle stiften Unfrieden und Eifersucht unter den Kommentatoren. Das Vokabular verschärft sich, und schon fühlen sich nicht nur Türken von dem Begriff Völkermord in Kurdistan provoziert. Oder man ergreift Ministerpräsident Yilmaz' Newroz-Versprechen als Ölzweig der endenden Kriegssintflut und muß sich Harmlosigkeit vorwerfen lassen. Dazwischen ist in der Tat wenig Platz für Differenzierung. Was in Kurdistan vor sich geht, spottet ohnehin jeder Sprache.
Yilmaz' Ankündigung einer humaneren Kurdenpolitik ist nicht neu, von den Regierungen Özal und Çiller gab es Ähnliches. Zudem sind die Friedensversprechen so sparsam – Aussetzung des Ausnahmezustandes in den Kurdenprovinzen, kurdisches Fernsehen (staatlich) und kurdische Schulen (privat) –, daß sie das Geschäft des türkischen Militärs an der irakischen Grenze weder stören noch übertönen können. Der Pelz, den sich dieser alte graue Wolf überzuziehen versucht, ist so löchrig, daß überall der Nationale Sicherheitsrat hervorschaut, gegen den auch Yilmaz in dem einen Jahr, das er jetzt zur Verfügung hat, keine Politik machen kann.
Der Sicherheitsrat kümmert sich auch nicht um die Kurden in der Partei des Ministerpräsidenten – jede Partei hat ihre Kurden –, die einem, wie der Abgeordnete Naim Geylani aus Hakkari, von dem im Parteiprogramm vorgesehenen Wiederaufbau der zerstörten Kurdendörfer erzählen. Zur gleichen Zeit geht die Evakuierung und Zerstörung der Dörfer weiter.
Die Türkei ist eine Demokratie in Form der konstitutionellen Militärdiktatur, wenn man schon das Unvereinbare auf den Begriff bringen muß. In ihr ist das Militär der Souverän, welches die Koalition von Yilmaz und Erbakan verhindert und schließlich das mühsame Bündnis mit Çiller erzwungen hat. Das Militär bestimmt Ausmaß, Form und Dauer des Krieges gegen die Kurden und ist für das verantwortlich, was bisher vornehmlich der PKK vorgeworfen wurde: Terror. Die Terrorisierung der kurdischen Bevölkerung ist das Ergebnis eines Kriegssystems, dessen Formen und Methoden zu oft von amnesty international, Human Rights Watch und anderen Menschenrechtsorganisationen dokumentiert worden sind, als daß sie immer wiederholt werden müßten. Dieses Ergebnis ist auch das Konzept des Sicherheitsrats, wie man des öfteren seine Mitglieder hat reden hören. Es ist Staatsterrorismus, von dem die Staatschefs jüngst in Scharm al-Scheich kaum gesprochen haben dürften. Deutsche Gerichte taten das schon, so das Verwaltungsgericht Braunschweig in einem Urteil vom 8. 4. 1992: „Durch die Übergriffe soll die kurdische Bevölkerung davon abgehalten werden, nach Unabhängigkeit zu streben und dieses Streben nach außen durch Demonstrationen ... kenntlich zu machen. Das aber hat mit Terrorismusbekämpfung nichts mehr zu tun. Das ist Staatsterror zur Unterdrückung politischer Meinungsäußerung.“ Aber ist es auch Völkermord?
Bei dieser seit Auschwitz deutschesten aller Mordvariationen gefriert dem deutschen Kommentator die Sprache, und das Gesetz der „Einmaligkeit des Holocaust“ wird zum unüberwindbaren Verbot der Political Correctness, diesen Begriff anderweitig zu verwenden. Außerhalb Deutschlands sieht man das anders: Die Völkermordkonvention von 1948 definiert eine Handlung als Völkermord, „die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“ (Art. II). Eine solche Handlung ist nicht nur die „Tötung von Mitgliedern der Gruppe“ und die „Verursachung von schwerem körperlischen oder seelischen Schaden an Mitgliedern der Gruppe“, sondern auch die „vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen“. Juristische Kommentatoren fügen in der ihnen eigenen Distanz hinzu, daß nicht mal beabsichtigt sein braucht, die „völkische Substanz“ zu vernichten.
In Ankara erklärt einem der langjährige kurdische Abgeordnete der konservativen Parteien DP, AP und DYP, Scheich Abdul Melik Firat, ohne Einschränkung und Zögern, daß dieser Krieg Völkermord sei, im militärischen Kalkül ausgerichtet auf die Zerstörung des kurdischen Volkes. Für diese und ähnliche Ansichten verbüßt er derzeit eine dreieinhalbjährige Gefängnisstrafe.
Der Krieg läuft in der Tat auf die Zerstörung der ethnischen Identität der Kurden hinaus. Dazu gehören die Unterdrückung der Sprache trotz Aufhebung des gesetzlichen Verbots, die Verfolgung und Illegalisierung jeglicher politischer Betätigung und Organisation ebenso wie die noch anhaltende Zerstörung von etwa 3.000 Ortschaften, die einen endlosen Flüchtlingsstrom in den Westen in Gang gesetzt und ganze Landstriche entvölkert hat. Die kurdische Gesellschaft ist einem tiefgreifenden Auflösungsprozeß unterworfen, der durch die Vertreibung, Inhaftierung und Ermordung ihrer Intellektuellen, der Vernichtung jeglicher öffentlicher politischer und kultureller Kommunikation zusätzlich betrieben wird. Ob diese Variante der kemalistischen Assimilierungspolitik ihrem Begründer wirklich so vor Augen gestanden hat, mag dahinstehen. In den nüchternen Kategorien der Genozidkonvention ist das Völkermord, daran ist kein Zweifel.
Zweifel gibt es vielleicht daran, ob sich durch die deutliche Benennung etwas ändert. In der Türkei wird man dafür ins Gefängnis gebracht, hier gibt es Schmäh. Begriffe ändern, wie gesagt, wenig, aber sie vermögen das Geschehen klarer zu definieren – vorausgesetzt man hat einen klaren Begriff von ihnen. Ihre politische Ohnmacht ist kein Argument gegen ihre Verwendung und ein verstopftes Gehirn schon gar nicht. Die Autoren der Genozidkonvention hat der Utopievorwurf im Jahr 1948 auch nicht daran gehindert, in den Artikel VI zu schreiben: „Personen, denen Völkermord oder eine der sonstigen in Artikel II aufgeführten Handlungen zur Last gelegt wird, werden vor ein zuständiges Gericht des Staates, in dessen Gebiet die Handlung begangen worden ist, oder vor das internationale Strafgericht gestellt, das für die vertragschließenden Parteien, die seine Gerichtsbarkeit anerkannt haben, zuständig ist.“
Wie wäre es nach dem Jugoslawien- und Ruanda-Tribunal mit einem Kurdistan-Tribunal in Den Haag? Norman Paech
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