Die jamaikanische Community in London: Bolt in Brixton
Erst 50 Jahre Unabhängigkeit, dann Usain Bolt: Jamaika feiert seine Siege in der Diasporahochburg Brixton. Obwohl Brixton heute schick ist und früh schlafen geht.
LONDON taz | Dichte Rauchschwaden ziehen durch die Electric Avenue. Hähnchenschenkel brutzeln auf Holzkohlegrills, Kinder knabbern an gerösteten Maiskolben, ein Händler köpft Kokosnüsse mit dem Messer trinkfertig. In den Nachbarstraßen pumpen Soundsystems Reggae und Raggamuffin und halten die Menschenmenge in Bewegung.
Tausende sind an diesem Sonntag nach Brixton gekommen, zum Brixton Splash, dem jährlichen Straßenfest der jamaikanischen Diaspora in Londons Süden. Diesmal gibt es mehr zu feiern als sonst: Jamaika begeht am 6. August den 50. Jahrestag der Unabhängigkeit von Großbritannien, und am Abend wird garantiert ein Mann von der Insel die Goldmedaille im 100-Meter-Finale der Männer holen. Jeder zweite Besucher hält eine gelb-grün-schwarze Flagge in der Hand, viele haben sich in den Landesfarben eingekleidet.
Die fröhliche Stimmung lässt vergessen, dass es im Vorfeld des Festes Ärger gegeben hatte. Lee Jasper, Vorsitzender des Splash-Organisationskomitees, hatte die Ladenbesitzer rund um die Electric Avenue namentlich dafür kritisiert, dass sie das Fest nicht finanziell unterstützen wollten.
„Hurricane Bolt“ titelte gestern die führende jamaikanische Tageszeitung The Gleaner. Einepassende Schlagzeile: Es stürmte und schüttete auf der Karibikinsel, als Usain Bolt in London Gold holte. Dennoch kamen Hunderte Menschen zum Public Viewing in der Hauptstadt Kingston, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters. Premierministerin Portia Simpson pries in einer Rede die „absolute Brillanz“ der jamaikanischen Läuferinnen und Läufer: Nicht nur hatten Usain Bolt und Yohan Blake im 100-Meter-Lauf der Männer Gold und Silber geholt, sondern am Samstag holten im 100-Meter-Lauf der Frauen die Jamaikanerinnen Shelly-Ann Fraser-Pryce und Veronica Campbell-Brown Gold und Bronze. „Dies beweist wieder einmal, dass Jamaika mehr ist als ein Name, nämlich der Stolz eines Volkes.“
Diese wehrten sich mit dem Hinweis, dass sie schon genug Geld an Wohlfahrtsorganisationen spenden würden. Lee Jasper, schon in seiner Rolle als Gleichstellungsbeauftragter von Exbürgermeister Ken Livingstone eine nicht ganz unumstrittene Figur, trat daraufhin vom Komiteevorsitz zurück.
Am Festtag aber steht Jasper dennoch auf der zentralen Bühne am Windrush Square, benannt nach dem Schiff, mit dem 1948 die ersten jamaikanischen Migranten zum Wiederaufbau der kriegszerstörten Wirtschaft nach Großbritannien geholt wurden. Er begrüßt Jamaikas Industrie- und Handelsminister Antony Hylton, der zwei Tage zuvor das „Jamaica House“, die offizielle Olympia-Repräsentanz seines Landes, eröffnet hat. Hylton lobt seine Landsleute in der Diaspora für ihre Unterstützung der Spiele. Und natürlich hofft er, dass die jamaikanischen Sporterfolge auf die Ökonomie des Inselstaats abfärben. Die Jamaica National Building Society, über die viele Briten jamaikanischer Herkunft Geldtransfers in ihre alte Heimat abwickeln, sponsert das Splash. Andere jamaikanische Firmen verkaufen Lebensmittel oder Devotionalien.
„Man hielt uns Schwarze für Affen“
Rowena Minott ist extra aus Kingston angereist, um Sonnenbrillen mit einem aus der Zahl 50 geformten gelb-grün-schwarzen Gestell unter die Leute zu bringen. „Das Geschäft geht hervorragend“, freut sich Minott. Eine der Brillenträgerinnen in der Menge ist Barbara Scott, die in Brixton aufgewachsen ist und heute südlich von London lebt. Ihre Eltern kamen in den 50er Jahren nach England. „Damals wurden sie gefragt, wo ihre Schwänze seien. Man hielt uns Schwarze für Affen. Solche dummen Ansichten gibt es heute viel seltener. Wir sind integriert.“
Rassismus mag Geschichte sein, soziale Ungleichheit nicht. „Die weiße Mittelklasse ist nach Brixton gezogen, während sich ärmere Schwarze das Wohnen hier nicht mehr leisten können“, sagt Trevor Bernard, der im Nachbarviertel Stockwell lebt und als junger Mann die „Brixton Riots“ des Jahres 1981 miterlebte. „Die kommen nur noch zum Umsteigen oder Einkaufen hierher.“ Bernard verkauft T-Shirts mit „50 Jahre Unabhängigkeit von Jamaika“ auf der Vorderseite und Usain-Bolt-Logo auf der Rückseite. Das Geld geht an Cafco, eine Organisation, die afrokaribischen Familien in Croydon hilft. „Die schwarze Community hat es weiter nach Süden verschlagen, nach Croydon und Thornton Heath. Und dort sieht es bitter aus.“
Bernard war nicht überrascht, dass die letztjährigen Unruhen Brixton weitgehend aussparten und stattdessen in Croydon besonders heftig wüteten. Er glaubt, dass auch das Splash-Festival Brixton bald in Richtung Croydon verlässt. Doch für Garfield Robinson bleibt Brixton unersetzlich. „Brixton ist genau der richtige Ort, um die Unabhängigkeit Jamaikas zu feiern“, sagt der Geschäftsführer eines afrobritischen Zeitungsverlages. „Wenn ich den großen Baum auf dem Windrush Square sehe, dann fühle ich mich wie daheim, denn er erinnert mich an einen Platz in Kingston.“ Allerdings ist sein Büro nicht in Brixton. Der Verlag ist in billigere Räumlichkeiten in den Docklands gezogen.
Um 19 Uhr schon wird dem Splash der Stecker gezogen. Die Polizei bezieht Stellung. Public Viewing wird es in Brixton nicht geben. Im Electric, einem Nachtclub, findet die Afterparty statt. Hier soll die Fernsehübertragung des 100-Meter-Finales auf einer Großleinwand gezeigt werden. Die Türsteher am Eingang sind nervös, lassen Wartende nur in großen Abständen rein, mit Personenkontrolle. Der Andrang bleibt aus. Zehn Pfund Eintritt ist zu teuer, bemängelt einer der Ragga-MCs, die am Nachmittag auf der Hauptbühne standen.
Hauptsache Gelb-Grün-Schwarz
Während die Bilder aus dem Olympiastadion über die Leinwand flimmern, beschallt der DJ den großen, halb leeren Saal. Stimmung kommt im Electric erst beim Einzug der 100-Meter-Finalisten ins Stadion auf. Die Fläche vor der Bühne füllt sich. Fahnen schwingen. Die Scheinwerfer der Kameras fokussieren auf tanzende junge Frauen. Der dritte jamaikanische Sprinter, Asafa Powell, erhält sogar einige Buhs. Usain Bolt wird natürlich frenetisch begrüßt. Nicht wenige der Gäste tippen allerdings auf Yohan Blake als den Sieger dieses Laufs aller Läufe.
Nach dem Startschuss toben und hüpfen die Zuschauer. Dass Bolt nach 9,63 Sekunden siegt, freut auch die, die eine andere Prognose gewagt hatten: Hauptsache, der Sieger hängt sich die gelb-grün-schwarze Flagge um die Schultern.
Die ikonische Pose Bolts wird im jubelnden Saal dutzendfach imitiert. Draußen herrscht derweil Stille. Die Straßen sind längst leer, die letzten Händler bauen ihre Stände ab. Man hört nicht einmal, wie drinnen im Electric die Songs von Bob Marley erschallen, gespielt von Rico und der Brixton Town Band. Nur ein einsamer Trommler an der U-Bahn-Station versucht noch, ein wenig Stimmung aufrechtzuhalten. Ansonsten bleibt diese karibische Nacht unter sich.
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