: Die grünen Kisten
TOTER DICHTER Exklusiv für einen Abend wurden in der Akademie der Künste ein paar der über 500 Archivkästen aus dem Nachlass von Peter Rühmkorf geöffnet
Wenn man einmal gestorben ist, bleibt nicht viel vom Menschenleben. Die Erben teilen die wenigen Schätze auf, schleppen säckeweise Altpapier zum Container, für das Haus kommt der Makler, und für den Rest der Trödler. Das war’s. War man aber zu Lebzeiten ein berühmter Dichter, kommt am Ende das Literaturarchiv Marbach – falls es nicht vorher schon da war.
Peter Rühmkorf, der im Juni 2008 starb, hatte dem Archiv bereits in den Achtzigerjahren seinen Nachlass verkauft und war damit ein Vorreiter des heute üblich gewordenen „Nachlasses zu Lebzeiten“. Zusammen mit Jan Bürger, Leiter der Handschriftenabteilung in Marbach, sind Stephan Opitz und Joachim Kersten, die Rühmkorfs Hinterlassenschaft betreuen, in die Akademie der Künste gekommen, um erstmals ausgewählte Fundstücke aus dem Nachlass öffentlich zu präsentieren und zu lesen. Auch Bilder aus der Lebenswelt des Dichters werden gezeigt. Man sieht das Arbeitszimmer des Verstorbenen in einem Zustand der Aufgeräumtheit, die aufs Schärfste mit dem lebendigen Chaos kontrastiert, das in zu Lebzeiten des Dichters entstandenen Fernsehaufnahmen in demselben Raum herrschte.
Auf einem anderen Foto ist ein Schuppen zu sehen, den Rühmkorf auf dem Grundstück seiner Freizeitkate bauen ließ, nachdem sowohl das Hamburger Erst- als auch das Zweitarbeitszimmer in der Kate keine Papiere mehr aufnehmen konnte. Der Schuppen, in dem der Dichter fortan Zeitschriften stapelte, ist grün, genau wie die Archivkästen, die in Marbach verwendet werden und die Rühmkorf schon zu Lebzeiten emsig füllte. Etwa 500 Rühmkorf-Kästen sind auf die Marbacher übergegangen, ein absoluter Spitzenwert.
Rühmkorf habe nie etwas weggeworfen, erzählt Joachim Kersten, jeder einzelne Schritt im Schaffensprozess sei dokumentiert und es habe sehr viele Schritte gegeben, weil der Dichter „alle Sachen, die ihm so durch die Rübe rauschten“, sofort zu Papier brachte. Unablässig schrieb er Tagebuch auf Blöcken, riss, wenn diese voll waren, alle Blätter heraus, um sie gründlich zusammenzutackern und einzutüten – zum Leidwesen der Archivare, wie Stephan Opitz anmerkt, in nicht säurefreien Briefumschlägen.
Niemand kann derzeit Prognosen abgeben, wann die nachgelassenen Tagebücher publiziert werden können. Es gebe eine mit Frau Rühmkorf vereinbarte Sperrfrist von zwanzig Jahren, doch aufgrund der inhaltlichen Radikalität, Äußerungen über lebende Personen betreffend, könne es auch länger dauern. Auf manche Päckchen habe der Autor „50 Jahre“ geschrieben.
Aus den Tagebüchern gibt es also an diesem Abend nichts zu hören, dafür eine höchst geistreiche, bisher unpublizierte Rede, die Rühmkorf anlässlich einer Preisverleihung hielt, dazu kleine literarische Vorarbeiten und Gedankenschnipsel, vom Autor als „Quanten“ und „Lyriden“ mit einem eigenen Namen geadelt, und ein längeres Gedicht, das mit urkomischer Besessenheit zahllose deutsche Ortsnamen verarbeitet, die bei einem, der es darauf anlegt, sexuelle Assoziationen hervorrufen könnten. Dass er sich in seinem Alter seine „Liebhaberinnen nicht mehr persönlich aussuchen“ konnte, hat den Poeten, das lassen auch die Quanten hören, sehr beschäftigt.
Das letzte Bild des Abends ist wenige Jahre alt. Rühmkorf hat in Berlin die Gräber von Benn und Brecht besucht und wartet im Hauptbahnhof auf seinen Zug. So fragil wirkt er da schon, dass die Bank, auf der er sitzt, riesig erscheint. Der Kragen seines rosafarbenen Hemdes aber korrespondiert perfekt mit dem Rosa im T-Shirt der jungen Frau, die schräg hinter ihm sitzt. Sie wendet ihm den Rücken zu. Das wird er möglicherweise sehr bedauert haben. KATHARINA GRANZIN