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Archiv-Artikel

Die grausliche Macht

Heruntergekommene Berufe. Heute: der Bäcker (Weltmeister im Höllencocktailbrauen)

Das Konglomerat tut einen matten Furz, ehe es zu einem pappigen Bierfilz mutiert

In der „Recherche du temps perdu“, genauer gesagt in der berühmten Madelaine-Episode, beschreibt Marcel Proust, welchen Zauber eine wohlgeratene Backware verbreiten kann. Der Erzähler Marcel tunkt einen Keks in seinen Lindenblütentee, und herauf steigt das Panorama der eigenen Jugend. Zum Beispiel der Duft von Apfel, Nuss und Mandelkern, Gänseschmalz und frischem Schnee: mithin die seligen Weihnachtszeiten, als noch kein Argwohn herrschte unter den Menschen, die Märklinbahn anmutig um ein Puppenhaus kreiselte und Omis lose Zahnprothese Bing Crosbys „White Christmas“ synkopierte.

Von dieser Art der Zeitreise ist heute allerdings dringend abzuraten. Wer es dennoch versucht, wird schwer enttäuscht sein. Er wird nur eines spüren: Auf welch trauriges Niveau das Backhandwerk am Standort Deutschland gesunken ist. Ja, es kann mit Fug und Recht behaupten werden, der Bäcker (oder Konditor) zählt zu den heruntergekommensten Berufsgruppen des Universums.

Jeder, der schon mal ein Brötchen etwas fester die Hand genommen hat, weiß, was gemeint ist. Das Konglomerat tut einen matten Furz, ehe es zu einem pappigen Bierfilz mutiert.

Erbärmlicher steht es wohl allein um den Geschmackssinn der Kundschaft. Sie frisst klaglos alles, was der Bäcker ihr vorsetzt. Vor allem das tägliche Brot. 84 Kilogramm verdaut jeder Deutsche per anno, behauptet die Bundesanstalt für Getreide-, Kartoffel- und Fettforschung in Detmold. Das wäre Weltrekord, wenn die Welt unter dem Synonym Brot dasselbe verstünde wie der hiesige Bäcker.

Aber dem ist nicht so. Denn das Gros der Völkerschaften backt die Schnitten mit nichts als Getreide, Zucker, Salz, etwas Fett und Wasser zusammen. Weshalb der deutsche Mehlwurm bevorzugt des Nachts in seine Höhle schleicht, um das schurkische Handwerk zu verrichten. Früher hieß sein Arbeitsplatz einfach „Backstube“, und so gemütlich sah es dort auch aus. Es gab große Regale mit Milchkannen und Mehltüten, kleine Regale für Rosinen, Nüsse und Gewürz, andere trugen Honig, Marmelade und Butterdosen. Es gab eine Knetmaschine und Formen für Brot und Kuchen. Es gab Sahnespritzen, Obstkisten und selbstverständlich den gewaltigen Ofen. Dazwischen sprangen die Bäckergesellen in karierten Hosen herum, pfiffen ein Lied, und das weiße Schiffchen auf ihrem Kopf wackelte lustig … So eine Backstube kann man heute im Museum bestaunen. Der moderne Bäcker trägt Chirurgengrün und vor dem Gesicht hängt eine Gasmaske. Mit groben Klauen, die in noch gröberen Sicherheitshandschuhen stecken, öffnet er Panzerschränke auf dessen Türen Totenköpfe grüßen. Sie hüten Emulgatoren und Geschmacksverstärker, synthetische Gelier- und Verdickungsmittel, toxische Farb- und Konservierungsstoffe, Pektine, Cellulose-Derivate, Schwefeldioxid, Polyphosphate, Butylhydroxitoluol und -hydroxianisol, Glutamin – und Salzsäure, Silicate, Stearate, Gluconate und gemeinen Knochenstaub.

Verbackt man diesen Höllencocktail mit gesäuertem Industriemehl Typ 405, entsteht alles Mögliche, nur kein Brot.

Menschen, die zu viel davon essen, wachsen Pickel, Geschwüre, gespaltene Zungen und zerknautschte Gesichter. Sie sehen schrecklich aus. Schrecklich wie Renate Künast, Herrin über die „Zusatzstoff-Zulassungs-Verordnung des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes“. Es geschieht ihr ganz recht. Denn dass man den deutschen Bäcker im Grunde einen Erzlumpen und Menschenverderber nennen muss, ist kein Geheimnis, sondern steht seit 200 Jahren schwarz auf weiß geschrieben. „Konditor wird hier eine unbekannte, aber sehr grausliche Macht genannt, von der man glaubt, dass sie aus dem Menschen machen könne, was sie wolle“, heißt es in E. T. A. Hoffmanns „Nussknacker und Mausekönig“.

Auch Büchner verlor angesichts des wachsenden Bäckerelends mehr als einmal die Contenance. Unter anderem in „Dantons Tod“. Als die Frauen und Kinder der Sansculotten im 1. Akt nach Brot schreien, beschließen die Revolutionäre die Ihren nicht etwa mit sinistrer Teigware, sondern lieber gleich „mit Aristokratenfleisch“ zu füttern.

Der deutsche Intellektuelle hatte den Glauben an die Zunft längst verloren. Man findet nichts als „hartes Brot“ (Grabbe), „bescheiden Brot“ (Mörike), „abscheuliches Brot“ (Schiller), „verschimmeltes Brot“ (Gellert) oder „trockenes Brot“ (Kleist), während Kafka ein „mit Butter geschmiertes und gesalzenes Brot“ lediglich seinem Käfer-Samsa zumuten mochte. Er selbst hätte es nie in den Mund genommen. Und auch der hellsichtige Heine war sicher: „Sie haben das Brot mir vergiftet.“

Dass eine derart gottlose und heruntergekommene Berufsgruppe trotz alledem lebt wie die Made im Speck, davon kündet der Dichter Wedekind:

„Es war einmal ein Bäcker, / der prunkte mit seinem Wanst, / wie du ihn kühn und kecker / dir schwerlich träumen kannst. / Er hat zum Weib genommen / ein würd’ges Gegenstück; / sie konnten zusammen nicht kommen, / sie waren viel zu dick“.

MICHAEL QUASTHOFF