: Die gesunde Mitte krankt
betr.: „Hartz: eine linke Reform“
Irgendein historischer Politiker – ich hab vergessen, wer es war – hat in ironischer und polemischer Absicht einem Kubaner die Worte in den Mund gelegt: „Der Sozialismus hat viel für die Gerechtigkeit auf Kuba getan. Vorher ging es einigen Menschen sehr schlecht, heute geht es hier allen Menschen sehr schlecht.“
Glaubt Herr Lauterbach tatsächlich, „dass sich der Wert der Politik daran bemisst, was sie für die erreicht, denen es am schlechtesten geht“? Klingt unheimlich moralisch, könnte aber etwa auch ein Vorwand dafür sein – um ein Beispiel aus Lauterbachs Spezialgebiet zu nehmen –, alle Prophylaxe und Breitenmedizin abzuschaffen zugunsten der Neuanschaffung eines weiteren Unfallrettungsfahrzeugs.
Ob es denen am untersten Rand der Gesellschaft mit Hartz IV heute besser geht, das sei mal dahingestellt. Die wesentliche Veränderung aber ist doch, dass der Arbeitsmarkt in seiner einst gesunden Mitte krank geworden ist. Ein Großteil der Mittelschicht ist mittelbar oder unmittelbar in den Niedriglohnsektor hineingezogen. Bis weit in den Bereich von Facharbeiter- und Akademikerberufen hat Hartz IV eine Schnäppchen-Struktur beim Einkauf von Arbeitskraft gefördert, die auch oberhalb von Mindestlöhnen zu einem – durchaus auch an der Würde der Arbeitenden kratzenden – Verfall des Wertes von Arbeit geführt hat. Eine Probe könnte die kürzlich in der taz diskutierte Erhöhung der Regelsätze für Hartz IV sein, die die Kaufkraft der Menschen steigern soll. Sie würde genau das tun, und zwar nicht nur bei den Leistungsempfängern. Man würde beobachten können, wie über den Median der Einkommensverteilung hinaus der Marktwert der Arbeit analog ansteigen würde.
NORBERT DREIER, Dortmund