: Die eigenen Fabeln
Auf der Jubiläumstagung der Thomas-Mann-Gesellschaft in Lübeck ging es auch um Verschwörungsmythen: Die Journalistin Annika Brockschmidt und „Volksverpetzer“ Thomas Laschyk erinnerten daran, dass die nie nur ein Problem der anderen sind
Von Alexander Diehl
Bei aller Feierlaune war der Wunsch spürbar, dem Namenspatron neben der üblichen, auf Jahreszahlen gestützten doch auch eine tatsächliche, am heute und seinen Problemen rührende Relevanz bescheinigen zu können: Zur „großen Jubiläumstagung“ hatte vom 5. bis 8. Juni die Thomas-Mann-Gesellschaft nach Lübeck geladen. Und die Zusammenkunft ausdrücklich dem politischen, auch dem politisch sich wandelnden Mann gewidmet – beziehungsweise seiner „Entwicklung vom reichstreuen Konservativen zum Vernunftrepublikaner bis hin zum überzeugten Demokraten“, ferner auch „seiner internationalen Identität“, im Unterschied wohl zum zeitgenössisch gern als Norm vorausgesetzten Nationalismus.
Da war’s einleuchtend, dass an sehr zentraler Stelle, um 20 Uhr am Samstagabend, eine Diskussion auf dem Programm stand unter dem nun wirklich sehr heutigen Titel „‚Fabeln, Wahnbilder, Hirngespinste’– Verschwörungserzählungen und ihre Gefahr für die Demokratie“. Neben sich auf der Bühne des Lübecker „Kolosseums“ konnte der Literaturwissenschaftler Tim Lörke nun Annika Brockschmidt und Thomas Laschyk begrüßen, die beide journalistisch-publizistisch das in Rede stehende Feld beackern. Brockschmidt tut das mit besonderem Fokus auf nordamerikanische Debatten und die christlich-nationalistische Spielart des Verschwörungsglaubens. Laschyk wiederum begann vor über zehn Jahren das Onlineprojekt „Volksverpetzer“, anfangs wesentlich der Versuch, Verschwörungserzählungen mit Fakten zu kontern.
Dass aber genau dieser Glaube an irgendeine Kraft der Wahrheit zu kurz greift; vielmehr erst mal zu verstehen wäre, was diese schlimmen Erzählungen denn so einladend macht für jene, die sie glauben – und die Demokratie solche Angebote vielleicht auch machen muss: Darum ging es in den gut zwei Stunden des Gesprächs, das gerahmt wurde durch szenisch vorgetragene Passagen aus Manns 1947 veröffentlichtem „Doktor Faustus“. Der ist nicht zuletzt ja eine Selbstbefassung des Groß-Bildungsbürgers Mann, eine Beschäftigung mit der Frage, wie das eigene Milieu dem Nationalsozialismus so offen gegenüberstehen konnte.
Dass aber „Fabeln, Wahnbilder, Hirngespinste“ – in Manns Roman absolut plausibel zu wirksamen kommenden „Vehikeln der politischen Bewegung“ namens Faschismus erklärt – nie nur bei anderen wirksam sind, dass wir alle potenziell empfänglich sind für den trügerischen Trost, den nur noch der Verschwörungsglaube scheint stiften zu können: Das war dem Podium auch erkennbar wichtige Botschaft. Dahingestellt, wie erfolgreich das passierte, ob man sich im Publikum nicht immer noch irgendwie immun wähnte gegen diesen Internet-Unsinn aus USA: Der Versuch genau daran zu rühren, war ehrenvoll.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen