■ Die bündnisgrüne Außenpolitik muß eine Wiederholung liebgewordener Denkschemata herausfinden: Wie zur neuen Friedensordnung für Gesamteuropa kommen?
In keinem anderen Politikfeld ist die Lücke zwischen grüner Beschlußlage und den Erfordernissen der Realität so groß wie in der Außenpolitik. Alle Versuche, diese Lücke zu schließen, enden meist – wenn nicht schon die Befindlichkeitsdiskussionen die Streiter mürbe machen – in realitätsfernen, auf utopische Gesellschafts- und Menschheitszustände gerichteten Positionsbestimmungen. In keinem anderen Politikfeld führen die Versuche, realitätstüchtige Konzepte zu entwickeln, zu so vielen „blutigen Nasen“. Auch die Chance, durch die Arbeit an einem Bundeswahlkampfprogramm, das das Ende des Kalten Krieges reflektiert, eine überzeugende bündnisgrüne Konzeption einer Außen- und Friedenspolitik zu entwickeln, ist vom Scheitern bedroht. Diese Chance könnte durch einen erneuten, hilflosen Rückgriff auf grüne Traditionsbestände versanden.
Viele haben scheinbar noch immer nicht gemerkt, daß der Kalte Krieg vorbei ist. Der Schutz der grünen Inseln, die wir uns im Strom des Alltagsbetriebs gebaut haben, ist zu Ende. Viele versuchen, dem gänzlich Neuen mit den alten Mitteln beizukommen. Aber kraftlos fallen die abgebrauchten Worte herunter. Jedenfalls ist jetzt die Zeit der einfachen Alternativen vorbei. Das zumindest sollte die bündnisgrüne Programmdebatte der kommenden Wochen widerspiegeln. Was also wäre nun angesagt?
Zuerst eine eindeutige Positionsbestimmung. Die ist im Grunde noch relativ einfach, und sie lautet: Grundpfeiler bündnisgrüner Außenpolitik, unabhängig davon, ob sie sich nun mehr als Menschenrechts-, Friedens- oder Nord-Süd- Politik begreift, bleibt der eindeutige Verzicht auf nationalstaatliche Lösungen. Internationale Probleme lassen sich nur in enger Zusammenarbeit mit anderen Staaten lösen. Bündnis 90/Die Grünen sollten in der Außen- und Friedenspolitik auf die Zivilisierung internationaler Konflikte, auf friedliche Verhandlungslösungen und auf den Ausbau und die Stärkung dazu geeigneter internationaler Institutionen setzen.
Es braucht eigentlich keiner erneuten Zusicherung, daß wir uns kategorisch gegen jegliche Militärbündnisse aussprechen. Aber um jedes Mißverständnis zu vermeiden oder jede Unterstellung zu erschweren, sei nochmals ausdrücklich klargestellt: Wir lehnen Militärallianzen wie die WEU und die Nato strikt ab. Sie suchen nicht die gemeinsame Sicherheit, sondern organisieren sich gegen einen außenstehenden Feind. Sie verstärken Rüstungsexporte, vergeuden Ressourcen, stehen der Abrüstung im Weg und sind ein Hindernis beim Aufbau einer gesamteuropäischen Friedensordnung.
Die einzige Alternative ist klar: eine gesamteuropäische Friedensordnung, die den Krieg als Institution überwindet und auf dem Weg dorthin die Gewaltanwendung minimiert. Deshalb sollten Bündnis 90/Die Grünen für ein regionales, auf Europa gerichtetes System kollektiver Sicherheit eintreten, denen Staaten angehören bzw. beitreten, die voreinander und miteinander Schutz suchen. Diese Sicherheit bedeutet die Sicherheit aller Mitglieder, die gemeinsam mit Sanktionen gegen einen Friedensbrecher vorgehen. Ein System kollektiver Sicherheit ist strikt von einem Militärbündnis zu unterscheiden. Ein System kollektiver Sicherheit verpflichtet sich zur Friedensicherung untereinander, und es ist ein System der Kooperation mit dem Ziel der Kriegverhütung. Die Kriegverhütung wird durch das Übergewicht aller friedliebenden Mitglieder gegenüber einem möglichen Angreifer erreicht. Dadurch wird weitere Abrüstung der nationalen Armeen mit dem Ziel ihrer vollständigen Auflösung möglich, da sich die Abwehrkräfte der Einzelstaaten gegenüber einem Aggressor aufaddieren.
Das hört sich bis hierhin wirklich gut an und dürfte auch Konsens sein. Aber jetzt beginnen die echten Schwierigkeiten, weil sich nun die Realität diesen schönen Vorstellungen entgegenstellt. Der Weg zu einer gesamteuropäischen Friedensordnung kommt nämlich an der Existenz der sicherheitspolitischen Institutionen in Europa wie KSZE, WEU und Nato nicht vorbei. Auflösen im Alleingang kann man sie nicht, und einseitig austreten wäre ein eindeutiger Bruch mit der bündnisgrünen Integrationspolitik als Garant gegen nationalstaatliche Alleingänge. Deshalb ist die Diskussion bei den Bündnisgrünen seit langem überfällig, wie dieses Problem gelöst werden soll. Es sei denn, man leugnet es schlicht oder denunziert Lösungsvorschläge in der Art, wer das Wort Nato nur in den Mund nehme, sei für nukleare Erstschläge.
Kann aus den verschiedenen europäischen Sicherheitszusammenhängen ein System kollektiver Sicherheit werden?
Die KSZE bietet ein solides Fundament, um daraus ein regionales System kollektiver Sicherheit zu bauen. In dieses könnte die Nato langfristig aufgelöst bzw. eingegliedert werden. Da es sich hierbei um einen langwierigen Prozeß politischer Umgestaltungsarbeit handelt, sollten folgende Kriterien zum Maßstab werden:
1. keine Verlängerung des geltenden WEU-Vertrages nach 1998
2. Verzicht auf ABC-Waffen
3. verbindliche Beschränkung des Nato-Einsatzgebietes auf das Territorium der Mitgliedsstaaten, d.h. keine Out-of-area-Einsätze und Einstellung aller Planungen zur Aufstellung global einsatzfähiger Interventionsstreitkräfte
4. strukturelle Nichtangriffsfähigkeit aller Nato-Verbände
5. Rüstungsexportverbot
6. weitere Abrüstung der nationalen Armeen im Rahmen einer Folgekonferenz über konventionelle Streitkräfte (KSE-II).
Die Diskussion über den Weg zu einer gesamteuropäischen Friedensordnung ist schwierig, weil es auch bei den Bündnisgrünen Bewahrungstendenzen, Beschwörungsformeln, Hochhalten „bewährter“ Traditionsbestände als Denkblockaden und nicht als Rückbesinnung für den Vorwärtsgang gibt. Daß die Glaubwürdigkeitslücke, die zwischen dem besteht, was eingestanden werden müßte, und dem, was eingestanden wird, derartig riesig ist und daß sie mit den alten Mittelchen nicht kleiner, sondern im Gegenteil noch größer wird, scheinen viele nicht wahrhaben zu wollen.
Diese Diskussion ist aber notwendiger denn je. Wer eine gesamteuropäische Friedensordnung will, sollte in seinem Programm einen Weg dorthin beschreiben, der existierende Probleme nicht leugnet, sondern versucht, mit diesen kreativ umzugehen. Achim Schmillen
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