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Archiv-Artikel

Die andere Hälfte

Der Sommelier Lars Rutz war der strahlende Star der Weinbar Rutz. Zusammen mit seiner Lebensgefährtin hatte er eine Institution in Berlin-Mitte geschaffen. Man traf sich bei Rutz in der Chausseestraße. Jetzt muss Anja Schröder allein weitermachen

VON FRIEDERIKE GRÄFF

Anja Schröder hat nie geplant, allein in der Weinbar Rutz zu stehen. Die Weinbar, das war das gemeinsame Projekt von Anja Schröder und ihrem Lebensgefährten Lars Rutz „Wir haben die Weinbar als Bühne zu zweit gesehen“, sagt sie. Zusammen haben sie geplant, sie haben die Räume gesucht, die Weinkarte mit den 1.001 Weinen geschrieben. Gemeinsam haben sie die Gäste begrüßt, mit Namen, sich über die Anerkennung in der Presse gefreut und über neue Weinevents nachgedacht. Bis Lars Rutz im Dezember 2003, knapp drei Jahre nach der Eröffnung, an Krebs gestorben ist. Jetzt steht Anja Schröder allein in der Weinbar, um dieses Projekt nicht im Stich zu lassen und auch um zu beweisen, dass sie es packt.

„Ich war immer unglaublich geradlinig“, sagt sie, und man glaubt es ihr. Schröder ist eine sehr schmale Person, elegant gekleidet, hat ein professionelles Auftreten. Mit 16 Jahren war ihr klar, dass sie in der gehobenen Gastronomie arbeiten wollte. Sie ist nach Berlin gegangen, um in den großen Häusern zu lernen, ist aufgestiegen vom commis de rang zum demi chef und dann zum chef de rang. „Mit fundiertem Weinwissen kann man den eigenen Marktwert steigern“, sagt sie, aber er hat keine große Rolle für sie gespielt, bis sie Lars Rutz kennen gelernt hat. „Diese Welt schien erst sehr undurchsichtig, aber Lars ist mit sehr einfachen Worten damit umgegangen und hat mir beigebracht, wie unkompliziert es sein kann.“ Bereits beim Frühstück haben die beiden über Wein gesprochen, über Aromen und Böden, und irgendwann hat sich dann ein Schalter in ihrem Kopf umgelegt, und sie hat begonnen, diese Welt als logisch zu empfinden.

Gemeinsam wollen sie eine Weinbar nach ihren Vorstellungen aufbauen: Mit spektakulärem Konzept, exzellenter Küche und moderaten Preisen, denn viele Weinliebhaber sind nicht länger bereit, 300-prozentige Preisaufschläge zu bezahlen wie in der Branche üblich. Deshalb führen sie ihre Konzept vom Korkgeld ein, jeder Gast zahlt 15 Euro Aufschlag zum Einkaufspreis, auf die einfachen Weine genauso wie auf die teuren.

Sie finden ein Haus in der Berliner Chausseestraße, in Mitte, wo sich gerade die New Economy ansiedelt, ihnen gefallen die beiden Etagen mit den großen Fenstern, und sie beginnen mit dem Umbau. Ein Jahr lang suchen sie den richtigen Bodenbelag und die passende Beleuchtung, Tische und Besteck aus, daneben arbeiten sie weiter an ihrem alten Arbeitsplatz. 2001 eröffnen sie mit einem Mitgesellschafter, Carsten Schmidt, die Weinbar Rutz: Es wird ein Erfolg. Die Weinliebhaber kommen, aber auch die Berliner Prominenz, Medienmenschen, die Presse schreibt wohlwollende Artikel, und sie werden in den wichtigen Restaurantführern erwähnt. Dafür arbeiten sie Tag und Nacht, das Rutz ist ihr Kind, daneben gibt es wenig.

„Es ist ein ziemlich hartes Brot“, sagt Anja Schröder, und ein Knochenjob dazu. Lars Rutz kümmert sich um den Weinkauf und die Kartenpflege, er macht die Buchhaltung und die Geschäftstermine, sie übernimmt die Restaurant- und Veranstaltungsleitung. Sie schleppen Weinflaschen und grübeln über die richtigen Weinevents und -partys nach, über Kochkurse und Mittagsverkostungen. Natürlich schreiben sie noch keine schwarzen Zahlen, aber es läuft gut, sogar dann noch, als die Nachbarn aus der gescheiterten New Economy allmählich wegziehen.

Sie sind beschäftigt, so sehr, dass Lars Rutz wenig an die Nachsorge nach seiner überstandenen Krebsoperation denkt, bis die Ärzte eines Tages ein metastierendes Melanom am Kopf finden. Aber die Gäste wollen weiter unterhalten sein. Unkompliziert ist das Motto der Weinbar. „Wir haben einfach weitergemacht“, sagt Anja Schröder. Lars Rutz geht zur Chemotherapie in die Charité, 200 Meter Luftlinie von der Weinbar, und kommt danach zurück, um weiterzuarbeiten. Er hat früher Schauspieler werden wollen, und nun spielt er die Rolle des strahlenden Gastgebers, und er spielt sie gut. Meist steht er ohnehin im Vordergrund. „Ich habe mit dem stärksten Mann der Welt zusammengelebt“, sagt Anja Schröder, und also beißt auch sie die Zähne zusammen. Erfindet für die Gäste Geschichten, wo ihr Mann gerade sei, wenn er in die Klinik geht. „Persönliche Stimmungen zählen nicht“, meint sie.

Im Dezember 2003 stirbt Lars Rutz. Am 16. Januar, einen Tag nach der Beerdigung auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, direkt gegenüber von der Weinbar, öffnet das Rutz wieder. „Wir waren alle gefasst“, sagt Anja Schröder. „Das Schauspiel geht weiter.“ Die zehn Mitarbeiter und sie machen weiter in seinem Sinne. Ein Lebenswerk kann man nicht verändern. Und es wäre noch viel schlimmer, wenn sie aufhörten. Manche Stammgäste kommen gerade jetzt, um ihre Unterstützung zu zeigen. Andere bleiben erst einmal weg, weil sie nicht wissen, was sie sagen sollen, wenn sie Anja Schröder allein treffen. Touristen füllen die Lücke. Sie wird kritisch betrachtet: Funktioniert es? Sie hat schon im letzten Jahr Lars Rutz immer mehr von der Buchhaltung und den Finanzen abgenommen, dass sie von Wein etwas versteht, ist allen bewusst. Es kommen weniger Gäste, aber der Umsatz steigt dennoch.

Anja Schröder sagt: „Ich mache hier vor Ort einfach weiter.“ Es gibt immer wieder Gäste, die fragen, wo Herr Rutz sei, manchmal versucht sie, es zu verschweigen, manchmal erzählt sie, was passiert ist. „Kommt es eigentlich schon sehr trocken rüber?“, fragt sie ihre Freunde, wenn sie davon erzählt hat, nicht zu lang, damit die Stimmung nicht kippt. Wenn sie nach 12 Uhr mittags kommt, hat sie ein schlechtes Gewissen. Sie bleibt bis 4 Uhr morgens.

Wenn alles gut läuft, ohne Patzer, die Gäste sich winkend verabschieden und auch noch die Kasse stimmt, dann geht sie mit einem guten Gefühl nach Hause. „Du kannst doch gar nicht so viel zu tun haben“, sagen ihre Freunde. „Doch“, meint sie. „Um es perfekt zu machen.“ Um sich selbst zu beweisen, dass sie es packt.

FRIEDERIKE GRÄFF, Jahrgang 1972, lebt als freie Journalistin in Berlin