Die Zukunft mit Westerwelle: Guido hat uns nicht lieb
Die deutsche Gesellschaft hat jetzt die Chance, zwei alternative Gesellschaftsmodelle für das 21. Jahrhundert zu entwickeln – und sich für eines zu entscheiden.
Guido Westerwelle ist vielen Leuten unsympathisch. Sehr unsympathisch. Während man Kanzlerin Merkel ganz okay findet und den gescheiterten SPD-Kandidaten Steinmeier gar für einen "netten Menschen" hält (was selbstverständlich gehörige Geringschätzung beinhaltet), ist der FDP-Chef und künftige Vizekanzler von Deutschland in vielen Teilen der Gesellschaft eine No-go-Area. Das liegt nicht nur an verschiedenen politischen Positionen. Und schon gar nicht an seiner sexuellen Orientierung, auch wenn am Sonntagabend selbst in gebildeten PC-Milieus im Zustand äußerster Wut nicht nur "Blödmann" geschrien wurde, sondern auch schon mal "Schwesterwelle". Grundsätzlich ist ein schwuler Vizekanzler selbstverständlich gut so. Aber bitte nicht Westerwelle.
Erscheint er auf der Bildfläche und redet von seiner Verpflichtung gegenüber "dem deutschen Volk", löst das bei manchen sogar "Brechreiz" aus. Das sagt man gern mal so, aber in seinem Fall spiegelt sich das in Gesichtern tatsächlich wider. Dass er "gar nicht geht", sagen selbst Leute, die ihn wählen müssten, würden sie ihre eigenen Ansichten ernst nehmen.
Es liegt ein tiefer, kultureller Graben zwischen großen Teilen dieses Volkes und seinem künftigen Außenminister, das schließt auch manche Mittelständler und intellektuelle Liberale mit ein. Und seine aufrechte Ablehnung von allem, was er mit 1968 und den Grünen verbindet, geben ihm das Profil, aber vertiefen eben auch den "Guido hat uns nicht lieb"-Graben.
Grundsätzlich: Westerwelle polarisiert. Deswegen haben knapp 15 Prozent FDP gewählt, weil er gegenüber vier eher staatsnahen Mitkonkurrenten eine erkennbare Alternative zu sein scheint. Ob das so bleibt oder überhaupt bleiben kann, ob Merkel ihn schnell ruhigstellt, ob die gesellschaftliche Mehrheit für Schwarz-Gelb nicht bereits in Nordrhein-Westfalen wieder perdu ist - man wird es sehen.
Grundsätzlich aber gilt das Polarisieren derzeit als gefährlich. Westerwelle beunruhigt. Und das haben auch jene Teile der Gesellschaft nicht gern, die progressiv sein möchten - aber in diesen komplizierten Zeiten Progressivität als Notwendigkeit interpretieren, sich an die gute alte Zeit zu klammern.
Genau deshalb ist Guido Westerwelle die interessanteste Figur, an der sich die Entwicklung dieser Gesellschaft in den nächsten vier Jahren festmachen wird. Zum einen muss man auch ihm eine Chance geben. Zum anderen braucht es gesellschaftliche Dynamik.
Die zurückliegende Bundestagswahl war ja weder Schicksals- noch wirklich eine Richtungswahl - außer man wählte FDP. Jetzt gibt es fünf Parteien, die Teile des Volkes vertreten, alle über 10, aber keine über 30 Prozent (wenn man der CSU die Eigenständigkeit zubilligt). Woraus folgt:
1. Das alte Denken hilft nicht mehr. Man schaue sich den Wahlkreis Stuttgart I an: Die bürgerlichen Kandidaten von CDU (34 Prozent) und Grünen (Cem Özdemir, knapp 30 Prozent) liegen in dem Wahlkreis klar vorn, der halb Metropole und halb ländlich ist. Das Direktmandat ging an die CDU, weil die SPD-Kandidatin Ute Vogt immerhin auch noch 18 Prozent holte. Die SPD hatte den Traditionsanspruch, in Stuttgart Direktmandate zu gewinnen, verweigerte den Deal mit den Grünen, worauf die CDU beide Wahlkreise gewann. Vielleicht aus alter Gekränktheit oder Realitätsverlust, vielleicht aus der Erkenntnis, dass Rot-Grün ein Anachronismus ist. Fazit: "Bürgerliche Mehrheit" ist nicht CDU/FDP, genauso wenig wie es alte Hierarchien und eine "natürliche" Nähe von SPD und Grünen gibt.
2. Es reicht nicht, Westerwelle abzulehnen. Es reicht nicht, Mindestlohn zu fordern. Es reicht nicht, die Energiefrage auf Atomkraft zu reduzieren. Damit soll nicht dem Rückgängigmachen des Atomausstiegs oder der Abschaffung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes das Wort geredet werden. Die ökologische Transformation der Gesellschaften ist die zentrale Zukunftsaufgabe, das kommt derzeit gerade langsam im Mainstream an. An ihrem Gelingen hängt vieles, auch die inhaltliche Ausfüllung der Mantras des Wahlkampfes, also "Wachstum", "Arbeitsplätze", "Gerechtigkeit".
3. Grade deshalb ist es zu kurz argumentiert, das "Schlimmste verhindern" zu wollen, wie SPD-Mitleidwähler sagten. Der selbsternannte künftige Oppositionsführer Steinmeier verwies am Wahlabend permanent auf die "146-jährige Geschichte" der SPD. Das erinnert an einen "Traditions"-Fußballklub, der aus der Meisterschaft von 1958 oder 1978 die Berechtigung für zukünftigen Erfolg schlussfolgert - statt sich mit den Bedingungen und Erfordernissen für guten und erfolgreichen Fußball im 21. Jahrhundert zu beschäftigen.
4. Man muss nicht immer gleich Bürgerkrieg fürchten, wenn irgendwo eine Kante ist. Würde Schwarz-Gelb, befeuert von den jeweiligen Wirtschaftsflügeln und den Energiekonzernen, wirklich die Atommeiler weiterlaufen lassen wollen und das EEG kappen, dann wäre die Zukunftsfrage Energiewende so zugespitzt, dass womöglich breite Teile der Gesellschaft die Notwendigkeit sähen, sich zu verhalten. Entweder durch Zustimmung oder durch Protest.
Das meint vor allem auch jene, die "Öko" aus kulturellen Gründen nie wirklich interessiert hat, also nicht nur Wirtschaftsliberale, sondern auch Kulturkreative, diverse Grünen-Wähler und jene entscheidende Altersklasse, die Robin Alexander gerade in der Welt als die "Generation Tigerente" beschrieben hat. Das sind zwischen 1965 und 1980 geborene Deutsche, die aus seiner Sicht das neue Bürgertum stellen. Eine bürgerliche Idylle sei das, aber eine, die alternativ ticke. "Konservative, aber nicht im Sinne der Union." Die von Schwarz-Gelb vertreten würden, sich aber nicht von Schwarz-Gelb vertreten fühlen wollen. Das ist die eine Sicht. Aus der anderen Sicht kann man auch sagen: Die neuen Bürger sind Progressive, aber nicht im Sinne von SPD und Linkspartei.
Viele der Generation, die über Deutschlands Zukunft entscheidet, können derzeit selbst nicht genau sagen, was sie sind - "konservativ" oder "links". Und das macht auch überhaupt nichts. Weil es leere Begriffe sind, die gesellschaftlichen Realitäten nicht mehr entsprechen. Bürgerliche Realität sind zum Beispiel suchende Karrieristen oder Postkarrieristen, die an einem individuellen Lebensglücksmodell für das 21. Jahrhundert basteln, bei dem Mann und Frau erfüllende Erwerbsarbeit und okaye Familienarbeit einigermaßen zusammen und im Großen und Ganzen glücklich auf die Reihe kriegen. Sie müssen sich nun entscheiden, ob sie Kleinfamilie und Freundeskreis leben und den Rest ausblenden, solange es geht. Oder ob sie über das Definieren einer eigenen und kollektiven Identität die vier sozialdemokratischen Parteien befeuern, echte und tatsächlich konkurrierende Alternativen anzubieten, die nicht Teile der Gesellschaft ausschließen und dennoch klare Konturen haben. Damit brächte die Wahl von Schwarz-Gelb die Chance, zwei alternative Gesellschaftsmodelle für das 21. Jahrhundert zu entwickeln, nach derzeitigem Stand dann ein eher wirtschaftsliberales und ein ökosoziales. Aber wer weiß, wo man rauskommt, wenn man einmal ernsthaft mit der Suche angefangen hat?
Nun werden die Älteren umgehend daran erinnern, dass nach dem überfälligen Schritt beziehungsweise Verrat der FDP von 1982 weder Kohls Slogan von der "geistig-moralischen Wende" jemals mit Inhalt gefüllt noch ein alternatives Gesellschaftsmodell entwickelt wurde. Sozialdemokraten und Grüne-Wähler begnügten sich knapp anderthalb Jahrzehnte damit, den Bundeskanzler Kohl als intellektuell nicht satisfaktionsfähig zu belächeln. Und Kohl hatte dann auch genug zu tun; jenseits von Geist und Moral. Und unsere weisen Eulen werden zu Recht darauf hinweisen, dass 1998 auch kein ganz großer Wurf war.
Selbstverständlich ist auch jetzt die Wahrscheinlichkeit groß, dass sowohl Regierung als auch Opposition als auch die Gesellschaft mit Rollenspielen gern und komplett ausgelastet sind. Aber das reicht nicht. Und was gestern war, gibt keinerlei Aufschluss darüber, wie wir die vier großen Krisen des 21. Jahrhunderts meistern. Mit Schwarz-Gelb hat unsere Wahl angefangen. Wir müssen sie treffen. Jetzt.
Was ich ganz sicher weiß: Gelingt es nicht, liegt die Schuld nicht bei Guido Westerwelle.
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