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Die Zukunft der Musikkritik VNeue Textformate entwickeln

Wozu noch Popkritik, wenn man sich bei last.fm und Co "selbst ein Urteil bilden" kann? Mögliche Lösung: Verknüpfungen, Analysen, lange, gut recherchierte Artikel. Wer wird das bezahlen?

Plattencover (Germfree Adolescents, 1978) der englischen Punkband X-Ray Spex. Bild: NessterCC-BY-SA

Fantastic Man: "Which art form will vanish?"

Gilbert & George: "Criticism."

Warum nicht die provokante These des Londoner Künstlerduos auf die Popkritik projezieren? Wenn in Zeiten der Fragmentierung, der geöffneten Archive und der Allgegenwart von Meinungsäußerungen im Internet der Eindruck entsteht, dass Popkritiker als Leuchtturmwärter ausgedient haben, dann ist da etwas dran. Nicht zufällig ist es für die Leser von Printmedien ermüdend, heutzutage etwa noch Plattenrezensionen zu lesen - zu eitel und zu wenig analytisch ist das Gros der Texte.

Der Autor

Max Dax, 40, lebt und arbeitet als DJ, Fotograf und Publizist in Berlin. Seit Dezember 2006 Chefredakteur der Musikzeitschrift Spex, Fotograf der Fotobücher "Napoli. La città e la musica" (2005, mit Peter Cadera) und "Palermo. La città e la musica" (2007, mit Peter Cadera). Autor der Sachbücher "30 Gespräche" (2008, edition suhrkamp), "Nur was nicht ist ist möglich - Die Geschichte der Einstürzenden Neubauten" (2005, mit Robert Defcon) und "The Life and Music of Nick Cave" (2000, mit Johannes Beck). Produzent der CDs "La Musica della Mafia - Il Canto di Malavita" (2000, mit Francesco Sbano und Peter Cadera) und "Songs From the Invisibile Republic - The Music That Influenced Bob Dylan" (2007). Im Herbst erscheint im Merve Verlag sein erster Roman "Dissonanz - der schwarze Blog".

Beiträge bisher: Wolfgang Frömberg (30. 3.), Jörg Sundermeier (9. 4.), Hannah Pilarczyk (16. 4.) und Nadja Geer (23. 4.)

Wenn man die ursächlich durch das Internet hervorgerufene Krise der Kritik jedoch als Lauf der Dinge und somit als Chance sieht, weil sich etwas ändert, und wenn man Gilberts & Georges Antwort auf die Frage, welche Kunstform verschwinden wird, zu einem "Die Kritik, wie wir sie kannten" umformuliert - wir wären einen konstruktiven Schritt weitergekommen.

Binnen weniger Jahre veränderte sich die Medienbranche (und mit ihr die Kritiker) so radikal wie nie zuvor. Redaktionen wurden ausgedünnt, immer weniger junge Autoren hatten zuständige Redakteure, von denen sie etwas lernen konnten.

In Gratismagazinen wurde die Trennschärfe zwischen redaktionellem und gekauftem Inhalt verwischt, dadurch wurden ehedem undiskutierbare Demarkationslinien auch in Kiosktiteln infrage gestellt. Die schiere Masse an Veröffentlichungen wurde zuvor als "neue Unübersichtlichkeit" bezeichnet, auch sie ist ein Problem, und schließlich darf der Gezeitenbruch nicht verschwiegen werden: Wozu noch eine Popkritik, wenn man sich "selbst ein Urteil bilden" kann, indem man die Musik auf Last-FM, auf YouTube oder als Snippet bei Amazon ohne Umwege hören - oder gleich illegal runterladen kann?

Die Lösung des Dilemmas liegt in der Beantwortung genau dieser Frage. Dem arbiträren Musikhören (sprich: Miles Davis ist auf meiner Terabyte-Festplatte unter "M" wie "Miles" abgespeichert, aber nicht in unsichtbarer Verknüpfung mit Joe Zawinul, Herbie Hancock und Wayne Shorter als Erneuerer des Jazz) kann Popkritik mit der Vermittlung von Erkenntnis und dem Angebot von Verknüpfungen begegnen.

Anders als im Internet, das erkenntnisfixiert ist in lediglich dem Maße, wie der User es zulässt, ist die Kritik im Printmagazin für den Leser gefiltert und editiert. Nur: Wie kann der Vertrauensvorschuss, den Popkritiker benötigen, um als erkenntnisstiftende Instanz respektiert zu werden, wiederhergestellt werden?

Sie müssen thesenstarke Einordnungen des besprochenen Phänomens liefern. Es muss ihnen gelingen, das Objekt der Begierde, also im konkreten Falle: die Musik, vor dem inneren Auge der Leser aufleben zu lassen. Sie dürfen sich keiner wiederkehrenden Schemata bedienen. Sie müssen in kritischer, informierter Distanz zum verhandelten Diskurs stehen. Sie müssen Phänomene wie das der Postökonomie, der digitalen Evolution, der parallelen Entwicklungen in den verwandten Disziplinen kontextualisieren. Sie müssen in einer Sprache schreiben, die die Leser verstehen; und sich zurückzuhalten mit der Thematisierung der eigenen Sprecherpositionen, denn niemanden interessiert der Geschmack der Autoren.

In Spex haben wir mit dem "Pop Briefing" den allwissenden Autor als Absender durch eine editierte, orchestrierte Vielstimmigkeit eines Autorenkollektivs ersetzt, das sich gegenseitig befruchtet, korrigiert und interessanterweise viel kritischer mit seinen Subjekten umgeht als die branchenübliche Kuschelkritik zuvor, in der die Kritiker, auch angesichts schlechter Bezahlung, oft den Weg des geringsten Widerstands wählten und über Platten schrieben, die sie ohnehin mochten.

Unsere Leser scheinen mit der Auflösung des Über-Autors weit weniger Probleme zu haben als die Autoren der vorangegangenen Folgen dieser Debatte zur Popkritik in der taz.

Diedrich Diederichsen, der dieser prismatischen Narration des Pop Briefings kritisch gegenübersteht und sich starke Autorenindividuen wünscht, welche die klassische Plattenkritik zu neuen Höhen führen, warb nach der ersten Ausgabe des Pop Briefings im Januar in der FAS für die Utopie einer popkulturellen Zeitschrift, die ähnlich wie der New Yorker die Vorteile von Print gegenüber dem Internet vereint: Sehr gut bezahlte Autoren schreiben sehr lange, sehr gut recherchierte Artikel. Leider entspricht das nicht der gesellschaftlichen und schon gar nicht der Medienrealität.

Seit der Gründung der Spex im September 1980 wurden Zeilenhonorare gezahlt, die im besten Falle (so der Fall heute) denen der taz entsprachen. Die Utopie Diederichsens kann in Spex (oder auch in der taz) nicht ohne weiteres realisiert werden. Gleiches Phänomen, andere Baustelle: Einer der diesjährigen Pulitzer-Preise ging an eine Stiftung, die ihre Autoren sehr gut bezahlt und deren sehr lange Texte von Medien wie der New York Times übernommen werden.

Bei Spex betrachten wir die Krise der Popkritik als Aufforderung, neue Textformate zu entwickeln und Debatten zu führen - die sowohl der gedruckten Zeitschrift als auch den Lesern neue Wege aufzeigen. Dann wird auch die Kritik als Kunstform nicht verschwinden. Sie wird sich nur etwas anders lesen.

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4 Kommentare

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  • ER
    Ernst Rengling

    Die Idee von Diedrich Diederichsen "... Sehr gut bezahlte Autoren schreiben sehr lange, sehr gut recherchierte Artikel. ..." gefällt mir sehr gut.

     

    Abgesehen davon, das diese Idee möglicherweise nicht rentabel und erst recht nicht massenkompatibel sein mag, orientiert sie sich eher an den wirklich Musikintessierten und möglicherweise auch an der anscheinend verschwindend kleinen Gruppe von Tonträgerkonsumenten.

     

    Jemand, der sich einen langen und hochwertigen Artikel über einen bestimmten Künstler liest, ist zumindest meiner Erfahrung nach keiner, der Musik im Vorbeigehen konsumiert, sondern eher jemand, der tiefer in die Materie einsteigen will.

     

    Gegen persönliche Meinungen von Autoren habe ich nichts, eher im Gegenteil - es hat doch immer noch seinen Reiz eine gut unterfütterte (schlechte) Kritik zu lesen. Peinlich wird es nur dann, wenn der Autor zu wenig Raum hat, um seine Kritik zu begründen, bzw. seine Meinung nicht nachvollziehbar ist. Und lediglich die Waschzettel der Labels neu aufzuarbeiten und mit etwas Kritik anzureichern reicht natürlich auch nicht. Eine gründliche Recherche sollte bei einer Kritik Grundvorraussetzung sein.

  • J
    Jörg

    Max Dax beschreibt die Situation treffend - nur die (formellen) Schlußfolgerungen die er daraus zieht kann ich persönlich nicht nachvollziehen. Ich finde es sogar fast etwas schade vom SPEX-Chefredakteur zu lesen, daß für die LeserInnen die persönliche Verortung und der Geschmack der Rezensenten nicht (mehr?)interessant sein sollte. In den "legendären" SPEX-Jahrgängen habe ich mich an den Rezensionen der SchreiberInnen abgearbeitet - gerade weil sie so subjektiv argumentiert haben. Oft mit viel Reibungen, mal verärgert, mal euphorisch - aber immer inspirierend. Erst wenn ich den Rezensenten kenne und einschätzen kann (oder er/sie zumindest genügend Raum bekommt die eigene Perspektive zu beschreiben) wird eine Platten(oder Konnzert-)besprechung interessant.

    Wie ich das an dieser Stelle zu einem anderen Beitrag bereits angemerkt habe, wurde die SPEX für mich durch das "Pop-Briefing" obsolet. Problematisch war sowieso schon der 8-wöchige Erscheinungsrhythmus, so daß Platten besprochen werden, die erst in vielen Wochen erscheinen oder die eigentlich schon in x blogs und Publikationen zur Genüge durchgekaut wurden. Nun lese ich nerdige "Fachgespräche" mir nur vage vertrauter Autoren, die sich mit Platten auseinandersetzen in die sie sich beim Tippen offenbar gerade erst reinhören. Kann ich genauso und nicht weniger interessant im Bekanntenkreis haben.

    Liegt vielleicht an meinem Alter (43) - aber Plattenbesprechungen sind für mich immer noch das Herzstück eine Musikzeitschrift. Wobei in den letzten Jahren die SPEX immer mehr zur allgemeinen - oft etwas beliebigen - Kultur- und Modepostille wurde, bei dem schwindenden Musikanteil war das für mich ein langsamer Abschied, der dann mit dem Pop-Briefing besiegelt wurde.

    So wie Max Dax das beschreibt scheint mein Wunsch oder meine Meinung wohl nicht marktkompatibel zu sein, aber für mich wäre der entgegengesetzte Weg der sinnigere. Wie von DD bereits proklamiert: lange Texte die in die Tiefe gehen und sich vom monatlichen Promotionzirkus zumindest teilweise abkoppeln.

    Es ist tatsächlich so, daß ich heute nicht mehr wie früher die Rezensionen gespannt lese um mich zu informieren welche Platten erschienen sind und welche ich im Plattenladen anhören oder gleich kaufen werde. Das passiert heute zeitnah im Netz - inklusive Hörproben, kompletten streams oder auch prompten Rezensionen. Artikel und Besprechungen in den Printmedien sind für mich mittlerweile zur Vertiefung da, es passiert da dann entschleunigt (im Netz hat man dauernd das Gefühl mit dem nächsten Klick entdeckt man noch was Interessanteres, etwas noch treffender geschriebenes) - und somit nachhaltiger inspirierend. Es soll Futter für meine Musikbegeisterung sein - nicht mehr Quelle für Faktenfaktenfakten.

    Um sich gegen Gratismagazine, blogs und websites als (Musik-)Zeitschrift zu positionieren fände ich es also schlüssig gerade auf die Autorenpersönlichkeiten zu setzen und sich auch teilweise vom Aktualitätszwang loszusagen - was ich in Zeiten der Veröffentlichungsflut, geöffneten Archive und Post-Retro-Post-Trends eigentlich nur konsequent fände.

    Und da sind dann wieder AutorInnen gefragt die inspirierend schreiben, Querverbindungen herstellen und sinnig sortieren können. Und dafür Platz und Zeit bekommen.

  • L
    Linus

    Dem Anschein nach geht also beim Popbriefing der Spex darum, die objektiv anmutende - übrigens vorschnell als solche gehaltene - Intersubjektivität bei Musikrezenionen einzuführen und anzupreisen.

    Erste Frage die daraus für mich entsteht:

    Ist das nicht gerade diese Intersubjektivität das, was die blogs im Internet hervorbringen können, die gleichzeitg so gern als der Dolchstoß für die journalistische Popkritik angesehen werden?

    Zweite Frage:

    Warum sollte es sich bei Musik als Kunst, um etwas handeln, was unbedingt objektiv verhandelt werden müsste?

    Natürlich sollte ein "allwissender Autor" sich davor hüten in einen eitlen, am Distinktionsgewinn orientierten, anmaßenden Ton zu verfallen. Ebenso kritisch ist es, wenn sich aus dem subjektiven Eindruck, nichts Größeres und Allgültiges gewinnwn lässt, da es sich zum Beispiel bei der Rezension nur um eine Einsicht in die Gefühlswelten der Journlisten handelt.

    Doch jedoch genau so etwas, wie das Popbriefing der Spex, versperrt einem mutigen, seine Meinung aüßernden Autor, eine gute recherchierte Rezension zu schreiben. Über die man sich übrigens auch sehr gut vom schnelleren und sehr zersplitterten Internet als Medium der Popkritik unterscheiden könnte. Mit einer Vielstimmigkeit eines Autorenkollektivs, das möglichst viele Aspekte beleuchten soll, kann jedenfalls bestimmt nicht eher die Objekte der Begierde wieder aufleben lassen. Das hört sich sich für mich objektiv gesehen nach Langeweile an.

  • S
    Sunny

    Den Sinn von Pop-Kritik habe ich noch nie verstanden. Gerade bei Popmusik gibt es immer jemanden, dem es gefällt und andere, denen es nicht gefällt. Natürlich kann man Vergleiche zwischen Platten und Interpreten anstellen, den wahren Geist oder nur Andeutungen des Mehrwerts für die Hörer der Musik wird man aber nie in Worte fassen können.

     

    Ich denke, die Konsumption von Pop-Musik in Schriftform war schon immer eine Notkonstruktion, die jetzt mit den Internetplattformen und streamenden Radios immer weniger benötigt wird.

     

    Ach ja. Ganz wunderbar bezeichnend für die bedauerliche Rückwärtsgewandtheit von Max dem Autor, der Seitenhieb auf alle, die sich im Netz für Musik interessieren, und deswegen vermutlich Raubkopierer sind. Ja, geht's denn noch beleidigter?