: Die Wirtschaft lahmt weiter
■ In ihrem Frühjahrsgutachten üben die Wirtschaftsforschungsinstitute herbe Kritik an der Regierung: Schlichtes Sparen richte nur Schaden an. Konjunkturbedingte Defizite müssen hingenommen werden
Bonn/Berlin (dpa/rtr/taz) – Erst die gute Nachricht: In der zweiten Jahreshälfte 1996 soll sich die Wirtschaft erholen. Ansonsten enthält das Frühjahrsgutachten, das die sechs führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute gestern in Bonn überbrachten, nur schlechte Nachrichten. Das Wirtschaftswachstum werde in diesem Jahr durchschnittlich nur 0,75 Prozent betragen – drei Prozent in Ostdeutschland und ein schlappes halbes Prozent im Westen. Im letzten Herbst hatten die Institute noch 2,5 Prozent Wachstum für 1996 geweissagt. Das Heer der Arbeitslosen wird von 3,6 auf 3,9 Millionen anwachsen, das ist eine Quote von 10,1 Prozent.
Heftig kritisieren die Wirtschaftsforscher die Finanzpolitik. Die „hektischen Sparmaßnahmen von Bund und Ländern“ ließen keinen Gestaltungswillen erkennen. „Die Gefahr ist groß, daß der Staat mit prozyklischer Politik den Abschwung verstärkt.“ Völlig falsch sei daher, in dieser Situation die konjunkturbedingten Defizite, etwa die Mehrausgaben für Arbeitslosenhilfe oder Mindereinnahmen durch Steuerausfälle, abbauen zu wollen. Im Gegenteil, um die Konjunktur zu stabilisieren, müßten höhere Defizite hingenommen werden. Die strukturellen Defizite hingegen müßten endlich angegangen werden. Dazu sei eine konsequente Steuerreform mit sinkenden Steuersätzen, weniger Ausnahmen und Subventionen nötig. Gespart werden solle durchaus auch bei den Sozialleistungen.
Noch schwärzer als die Institute sehen die sogenannten Fünf Wirtschaftsweisen die Lage. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung rechnet für 1996 nur noch mit einem halben Prozent Wachstum. Ein entsprechendes Sondergutachten stellte das Bundeswirtschaftsministerium gestern vor.
Dennoch vermutet die Mehrheit der Institute, daß sich 1997 die Wirtschaft deutlich erholt. Ein Wachstum von 2,5 Prozent sei dann durchaus möglich. Dazu würden moderate Lohnabschlüsse, bessere Exportchancen durch eine niedriger bewertete D-Mark und der private Verbrauch beitragen. Woher die verstärkte private Nachfrage allerdings kommen soll, ist angesichts geringerer Lohnabschlüsse und gestutzter Sozialleistungen fraglich – zumal die Institute schätzen, daß im kommenden Jahr die Steuer- und Abgabenlast keineswegs sinken wird. Daher gehen das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) in einem Minderheitsvotum von lediglich 1 bis 1,5 Prozent Wachstum für 1997 aus.
Auch dieses Jahr wird die Bundesrepublik die Teilnahmevoraussetzungen für die Europäische Währungsunion nicht erfüllen. Die Wirtschaftsforscher rechnen mit einem Defizit von 137 Milliarden Mark – 14 Milliarden mehr als 1995 und 3,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der Vertrag von Maastricht erlaubt nur 3 Prozent. Die Wirtschaftsforscher empfehlen daher, die Maastricht-Kriterien flexibler auszulegen. lieb
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