: „Die Wirkung ist konstruiert“
VORTRAG „Poesie, Phantasie und Paralyse“: Ein Dermatologe redet über Genie und Wahnsinn
■ 66, ist Dermatologe, war bis 2010 Chefarzt des Hautklinikums Bremen-Mitte und ist Experte zum Thema „Haut und Haar in der Literatur“.
taz: Herr Bahmer, Phantasie und Poesie passen ja gut zusammen – aber was hat Paralyse damit zu tun?
Friedrich Bahmer: Auf den ersten Blick natürlich nichts. Aber hier geht es um den frühen Endzustand der Syphilis, die progressive Paralyse, und die wurde lange Zeit in der Literatur als genialisierend beschrieben. Zum Beispiel in Thomas Manns „Doktor Faustus“, wo sich der Komponist Leverkühn absichtlich infiziert, um musikalische Genialität zu erlangen. Oder Nietzsche, bei dem man sich heute ziemlich sicher ist, dass er eine syphilitische Paralyse hatte.
Woher kommt die Idee, einer Krankheit solche Kräfte zuzuschreiben?
Ibsen hat in „Gespenster“ eigentlich zum ersten Mal die Syphilis aufgegriffen. Damals dachte man, dass sie eine Erbkrankheit sei, die vom Vater auf den Sohn übertragen wird. Und dann gab es ein Buch des italienische Psychiaters und Anthropologen Cesare Lombroso, wo er anhand des Dichter Nikolaus Lenau bewiesen haben wollte, dass Syphilis genial macht. Dieser Glauben hat sich gehalten bis ins frühe 20. Jahrhundert.
Und? War da was dran?
Nein. Die Wirkung ist sehr konstruiert – schließlich gab es viele Künstler, die genial waren, aber nicht unter Syphilis litten. Seit 50 Jahren ist sie ja auch weg vom Fenster, auch in der Literatur.
Aber die Krankheit ist nicht ausgerottet...
Das stimmt, aber seit es Penicillin gibt, lässt sie sich in jedem Stadium problemlos behandeln. Außerdem scheint es, als sei der Krankheitsverlauf schwächer geworden. Ich bin seit 40 Jahren Dermatologe – in dieser Zeit wurde mir kein Fall einer progressiven Paralyse bekannt. Diese Form der Syphilis ist heute sehr, sehr selten. Interview: SCHN
19 Uhr, Haus im Park (Klinikum Ost)