: Die Wasserstände sinken, die Wut steigt
Schon wieder eine Jahrhundertflut? Nicht ganz, meinen Experten. Vielmehr sind Flächenfraß und die mangelnde Kooperation der Anrainerstaaten für die Ausnahme-Überschwemmungen verantwortlich. Niedersachsen fordert Staatsvertrag
von KAI SCHÖNEBERG
„Die Flut hat, so bitter es klingt, auch ihre gute Seite“, sagt Georg Rast. „Sie rüttelt die Leute noch mal richtig auf“, meint der Hochwasser-Experte vom World Wide Fund for Nature (WWF). Nicht nur Rast fragt sich, wie oft die Pegel noch zum „Jahrhunderthochwasser“ anschwellen müssen, damit endlich „Schluss ist mit der Kirchturmpolitik“ von Bund, Ländern und Gemeinden. Immerhin: Gestern sanken die Pegelstände der Elbe im niedersächsischen Hitzacker und auch im schleswig-holsteinischen Lauenburg erstmals seit zehn Tagen wieder. Währenddessen steigt die Wut der Betroffenen in den abgesoffenen Gemeinden, und Experten sind über vertane Chancen verärgert.
„Das war nicht das größte Elbhochwasser seit 1895“, betont WWF-Mann Rast. Noch in Sachsen hätten die Pegel bis zu zwei Meter unter den Höchstständen des Jahres 2002 gelegen. In den vergangenen gut 100 Jahren mussten laut Rast jedoch flussabwärts gut „80 Prozent der natürlichen Überflutungsflächen Industrieanlagen, Baugebieten und Ackerflächen weichen. Da fehlen zigtausende Hektar“. Vor allem in Niedersachsen habe die Agrarlobby in den vergangenen Jahren viele Auen in Beschlag genommen. „Der Druck von Kommunen, Landwirtschafts- und Baulobby, die Flächen entlang der Flüsse zu nutzen, ist viel zu groß“, sagt Rast.
Neben den Höchstständen von Saale und Havel haben die in den vergangenen Jahren in Sachsen oder Sachsen-Anhalt gebauten Elbdeiche zudem gute Arbeit geleistet – und die Wassermassen wie auf einer Autobahn flussabwärts geleitet. Auch die zum Teil begradigten und kanalisierten Nebenflüsse wie Jeetzel und Seege können der Elbe nicht mehr als Rückzugsgebiet dienen. Immerhin sank gestern der Jeetzel-Pegel um über 30 Zentimeter.
Schuld an den unerwartet hohen Ständen in Norddeutschland ist zahlreichen Fachleuten zufolge die mangelhafte Kooperation der betroffenen Bundesländer. Deshalb fordert jetzt offenbar auch Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff einen Staatsvertrag zwischen den Anrainern. Der soll Länder dazu verpflichten können, Flächen zu fluten, damit Wohngebiete in anderen Bundesländern geschont werden. Da werde es „ein bisschen auch Einfluss des Bundes geben müssen“, gestand Wulff gestern im Deutschlandradio das föderale Scheitern ein.
Ein Grund für das Hochwasser im Norden ist, dass Brandenburg diesmal keine Überflutungsflächen anbietet, weil dort die Havel viel zu hoch steht. Am Rhein basteln Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz seit über zehn Jahren an so einem Staatsvertrag. „Das ist kaum nach vorne gegangen“, sagt Sebastian Schönauer vom BUND. „Jeder wollte den anderen, ich sage es mal so: austricksen.“ Auch Schönauer fordert mehr Flächen für die Flüsse, aber auch Laubmischwälder in den Gebirgen: „Die können das Wasser halten wie ein Schwamm.“
Die Gefahr ist trotz sinkender Pegel noch nicht gebannt. Gestern hatte die Elbe ihren Scheitelpunkt in Lauenburg mit 9,10 Metern erreicht, heute ist dort mit knapp 9,00 Metern zu rechnen – das sind immer noch 30 Zentimeter mehr als 2002. Weiter stromabwärts, unterhalb von Geesthacht, wird sich die Flut viel besser verteilen können. In Hamburg dürfte der Wasserstand nur um 50 Zentimeter steigen – es besteht offenbar keine Gefahr. Als kritisch wird vor allem der Zustand der Deiche östlich der Elbe in Richtung Amt Neuhaus eingeschätzt. Der Landstrich hatte bis zum Jahr 1993 noch zum Osten Deutschlands gehört. Dort sind 13 Kilometer Deich noch nicht erneuert. Gestern rückten 500 Bundeswehrsoldaten an, um die sich langsam vollsaugenden Erdhügel mit Sandsäcken zu stärken. „Wir rechnen nach wie vor mit einem hohen Wasserstand bis Ostern“, sagt Achim Stolz vom Niedersächsischen Landesbetrieb für Wasserwirtschaft. „Je länger das Wasser steht, desto größer wird die Gefahr, dass die Deiche aufweichen.“