Die Wahrheit: Nomen est omen est Til
Das Ticket in die Welt der Reichen und Schönen: Unterwegs im Namen der Namensforschung mit der Koryphäe der deutschen Onomatologie in Siegen-Ost.
Groß ist das Geschrei im Indoor-Freizeitparadies Siegen-Ost. Zwei Rabauken im Kindergartenalter ziehen sich gegenseitig an den Haaren, rollen als kämpfendes Knäuel über den bunt bedruckten Spielteppich. Als der Dunkelhaarige mit seinem Matchboxauto das Lastenrad des Latzhose tragenden Lockenschopfs von der Straße rammt, um mit röhrendem SUV-Motor vor der Bäckerei halten zu können, ist es aus mit der Freundschaft.
Professor Bielke, der am Rande des Spielteppichs aufmerksam das Kampfgeschehen verfolgt, macht sich derweil auf dem Klemmbrett letzte Notizen. Dann verkündet er das bang erwartete Urteil: Die seit ihrer Geburt „kennzeichnungsfreien“ Kinder sollen ab sofort Volker und Robert heißen. Während unter den mitangereisten Familien Applaus im Indoor-Freizeitparadies Siegen-Ost aufbrandet, zieht es Bielke weiter durch die Hallen des brechend vollen Kids-Tempels.
Der 78-jährige Wissenschaftler ist Deutschlands führender Experte auf dem Gebiet der Onomatologie. Gegen Zahlung eines vierstelligen Honorars hilft er Eltern bei der Suche nach dem idealen Vornamen für ihre Stammhalter und Stammhalterinnen. „Im günstigsten Fall wirkt der ausgewählte Vorname auf andere Menschen unwiderstehlich. Dann dient er als Ticket in die Welt der Reichen und Schönen“, führt Bielke aus, den wir heute auf einer seiner segensreichen Taufrunden begleiten dürfen.
Da Termine bei dem Meister-Onomatologen nicht selten über Jahre ausgebucht sind, muss der namenlose Nachwuchs seiner Kunden die schlimmstenfalls bis zum Schulabschluss andauernde Zeit der onomastischen Leere mit verniedlichenden und wenig individuellen Universalbezeichnungen wie „Püppi“, „der Lütte“ oder „Muttis Bester“ überbrücken. „Geduld, die sich eines Tages auszahlt“, versichert uns Bielke. Denn nur mit einem Namen, der auch zum Naturell der Trägerschaft passe, könne diese ihre angeborenen Fähigkeiten potenzieren und im Leben wahrhaft Großes bewirken.
Ohnmacht und Tränen
Beim Schlendern durch die Menge raunt Bielke der Mutter einer trampolinspringenden Achtjährigen den Namen „Annalena“ zu. Die Frau fällt in Ohnmacht, während ihre Tochter bei einem „Yes!“-Schrei unaufmerksam wird und prompt neben dem Netz landet. Ein Rotschopf, der sich gerade mit weit ausladenden Armbewegungen eine freie Passage durch das Bällebad erarbeitet, wird vom Hochschuldozenten mit einem biblischen „Moses“ beschenkt. Der entsetzte Vierjährige bricht daraufhin in Tränen aus, tröstend nimmt ihn sein Vater in den Arm.
Wie Professor Bielke uns stolz erzählt, hat er in beinah 50 Berufsjahren Abertausenden von Kindern durch seine Expertise zu Karrieren im Showbusiness oder anderen hohen politischen Ämtern verholfen. „Dass dabei auch hin und wieder Fehler passieren, das wiederum lässt sich leider nicht vermeiden“, gibt der Namedropper zu. So sei ihm einst bei dem siebenjährigen Armin Laschet ein folgenschwerer Lapsus unterlaufen.
Selbstkritik und Schweigen
„Arminius war ein Cheruskerfürst, der dem mächtigen Chef der Südländer im Jahre 9 n. Chr. die Herrschaft über Germanien gründlich versaute. Offenbar habe ich die beiden aus irgendeinem Grund verwechselt“, zeigt Bielke sich neben der Tatsache, dass Laschet eigentlich Markus hätte heißen müssen, auch noch in einem anderen Fall selbstkritisch. „Dem als gewalttätig und übellaunig verrufenen Til Schweiger einen neckisch-sympathischen Eulenspiegel-Rufnamen verordnet zu haben, werfe ich mir heute noch vor“, entschuldigt sich der Namensschöpfer. Von Till Lindemann hier ganz zu schweigen, wie er betreten schweigt.
Bielke spricht gegen einen deftigen Aufpreis auch in Bezug auf Religions- und Parteizugehörigkeit der dann benamten Kleinen wissenschaftlich fundierte Empfehlungen aus. Als Top-Referenzen führt der Identitätsstifter gern Weihbischof Ansgar Puff und Innenministerin Nancy Faeser ins Feld. „Hier lag ich wohl in allen Punkten goldrichtig.“
Die Namenstaufe im Indoor-Freizeitparadies Siegen-Ost nähert sich langsam dem Ende. Nachdem Professor Bielke fast allen anwesenden 700 Kindern den Weg zu Ruhm und immerwährender Glückseligkeit geebnet hat, findet im Zelt nebenan eine einmalige Sonderumtauschaktion statt. Bielkes mittlerweile erwachsen gewordene Kunden, die als Minderjährige unverschuldet an „Björn“ oder andere Vornamen späterer AfD-Kräfte gelangt sind, dürfen sich aus seiner onomatologischen Restekiste heute ausnahmsweise kostenlos einen neuen Namen aussuchen. Für eine hundertprozentige Wirksamkeit seiner legendären Nomen-est-omen-Power übernimmt Ulf-Winnetou Bielke in diesem Fall allerdings keine Gewähr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben