Die Wahrheit: Klammern bis zum Umfallen
Wer kennt ihn nicht: den Klammeraffenblues. Warum ist die Klammer im Pop so prominent? Versuch, die (Hinter-)Gründe für die Klammer zu finden.
Aktuell findet sich in den Top Ten der deutschen Single-Charts nur ein einziger Titel, der einen Klammerzusatz trägt. Auf Platz 8 stehen Kummer & Fred Rabe mit „Der letzte Song (Alles wird gut)“. Platz 8 ist natürlich immer noch okay, gerade für Nachwuchskünstler; er zeigt aber auch: Ein Garant für Spitzenplätze sind Klammern nicht. Womit sich die Frage stellt, warum es sie überhaupt gibt. Wozu die ganze Mühe?
In der Fachliteratur werden Klammerzusätze in Musiktiteln als popkulturelles Phänomen angesehen, was bedeutet: Braucht kein Mensch, richtet aber auch keinen größeren Schaden an. Allenfalls ließe sich sagen, dass es sie „früher“ irgendwie nicht gab. Bach hat keine „Messe h(-Moll)“ komponiert, Beethoven keine „5. (Sinfonie)“, Mozart keine Oper „(Cosi fan) tutte“. Das erste wirklich bekannte Musikstück der Popkultur mit einem Klammerzusatz könnte „(I Can’t Get No) Satisfaction“ von den Rolling Stones gewesen sein, zeitlich dicht gefolgt von den Beatles mit „Norwegian Wood (This Bird Has Flown)“ vom grandiosen „Rubber Soul“-Album.
In beiden Fällen ergeben die Klammerzusätze einen gewissen Sinn: Bei den Stones verkehren die geklammerten Worte die Aussage des Titels in sein Gegenteil, erzeugen somit Ambivalenz. Bei den Beatles wird klar, dass die besungene Emotion den Vortragenden nicht grundlos überkommt, sondern dass erst das Entfliegen eines Vogels die „Norwegische Wut“ in ihm auslöst – ein Begriff, der ansonsten rätselhaft bliebe und der vermutlich das Gegenteil ist von, sagen wir, süditalienischer, mithin sizilianischer Wut, also nicht heiß und brodelnd wie diese, sondern kühl, klar und eisig (bzw. wie man in Norwegen gerne sagt, øsig).
Semikolon ist nicht Pop
Auch bei zahlreichen anderen Bands funkelt hier und da ein Klammerwerk in der Diskografie auf; von Abba mit „Gimme, Gimme, Gimme (A Man After Midnight“) über Meat Loaf mit „(Everything I Do) I Do It For You“ bis Pink Floyd mit „Pigs (Three Different Ways)“. Genre und künstlerischer Anspruch spielen ersichtlich keine Rolle. Die Klammer passt überall gleich gut bzw. gleich schlecht. Ihr Einsatz könnte darauf zurückzuführen sein, dass sich die Mitglieder einer Band nicht auf einen Titel einigen konnten. Der eine fand „Satisfaction“ gut, der andere „I can’t get no“. Diesem war die Wut wichtig, jenem der Vogel. Meat wollte es kurz, Loaf lieber lang. Übergreifend fällt auf, dass die genannten Songs eher Frühwerke sind.
Ein Erklärungsversuch: Mick Jagger und Keith Richards, John Lennon und Paul McCartney, Roger Waters und David Gilmour – sie waren ja auch mal jung. Und weil man in jungen Jahren noch nicht wegen jeder Mikromeinungsverschiedenheit die Anwälte aus dem Zwinger holen lässt, griff man zur Klammer, die in diesem Fall ein Symbol für Ausgleich und Kompromiss wäre.
Könnte man nicht auch Fußballergebnisse auf diese Weise lesen? „Union – Hertha 3:1 (0:1)“ würde bedeuten, dass nach der einen Auffassung Union mit drei zu eins gewonnen hat, andere jedoch der Ansicht zuneigen, das Spiel habe mit einem eins zu null für Hertha geendet. In einem derartigen Ergebnis fänden sich die Fans beider Mannschaften wieder, was einigen Druck aus dem Kessel nähme.
Aus seinen jüngeren Lebensjahren dürfte jeder noch den Klammerblues kennen, bei dem es aber natürlich nicht um Satzzeichen ging, sondern um Titel, die sich dank einer speziellen Kompositionstechnik, die die Musiker vom allzu hurtigen Betätigen von Instrument und Stimme abhält, zum Engtanz eigneten. Langsame Stücke, bei denen sich junge Menschen umklammern konnten, was bei den sonstigen Discostampfern kaum möglich war. Die an ihren Tanzpartnerinnen ohnehin eher haptisch interessierten Jungs forderten den Klammerblues irgendwann beim DJ ein, in den achtziger Jahren etwa „Time after Time“ (Cyndie Lauper) oder gar „Je t’aime (Moi Non Plus)“ (Serge Gainsbourg und Jane Birkin), während die Mädchen von der klar die Mehrheit ausmachenden „Pfoten-weg-Fraktion“ lieber nochmal „Major Tom“ hören wollten.
Komma im Bandnamen: selten
„Major Tom“ ist ein weiteres Beispiel für Klammertitel; offizieller Name des Songs ist nämlich: „Major Tom (völlig losgelöst)“. Der Klammerzusatz ist in der Tat völlig, und zwar überflüssig; er erschließt keine weitere Bedeutung, stellt weder etwas klar noch in Frage, sondern ist – völlig losgelöst (sic!) vom Rest des Titels – nichts als Marotte, Zierrat, Popkultur. Er markiert bestenfalls den Beginn des Refrains, jenen Teil des Songs, ab dem jedermann mitgröhlt. Was aber hier wie bei jedem guten Mitgröhlsong auch ohne den Klammerzusatz funktionieren würde.
In der Mathematik, der Mutter aller Hilfswissenschaften, dient die Klammer der Gruppierung von Termen, hat also eine ordnende Funktion. Stehen Klammern in der Klammer, bedeutet auch das irgendetwas in der Geheimsprache der Mathe-Nerds; vermutlich muss man erst das eine mit dem anderen und danach bzw. umgekehrt oder erst ganz zum Schluss, dann aber hoch minus oder doppelt. In Songtiteln gibt es dergleichen nicht. Das ist auch gut so! Angewendet auf den dank Peter Maffay auch im Westen bekannt gewordenen Überhit der DDR-Tanzmusikformation Karat ergäbe sich in etwa „Ü [ber (sieben) Brücken (musst Du gehn)]“ – ein sperriges Konstrukt, das sich wohl nur durchsetzen würde, wenn damit irgendwas oder irgendwer sprachlich sichtbar gemacht würde. Aber die Frage stellt sich nicht, weil: Im Osten gab’s ja nüscht, auch keine Klammern.
Geile Band:!!! (chk chk chk)
Die Klammer selbst wird deutlich seltener besungen als, sagen wir, die Liebe, die Sehnsucht, der Sinn des Lebens, der Rote Thunfisch, ja selbst als vom Verfall bedrohte Kirchturmspitzen in Ostbrandenburg. Vermutlich gibt es sogar mehr Songs, die die Sehnsucht nach Rotem Thunfisch auf vom Verfall bedrohten Kirchturmspitzen behandeln als Songs über die Klammer. Schade. Und irgendwie auch ungerecht. Denn maßvoll und mit Umsicht eingesetzt, kann sie einen Song formal wie inhaltlich bereichern.
In der langen Geschichte der populären Musik macht einzig Pete Seeger, der Godfather des US-amerikanischen Protestsongs, mit „If I Had a Klammer“ eine Ausnahme. Er hätte gern eine gehabt, um damit, wie er singt, am Morgen, am Abend und die ganze Tageszeit dazwischen nichts anderes zu tun als zu klammern, und zwar nicht nur bei sich zu Hause im Klammerzimmer, sondern „all over the land“!
Niemand sollte vor ihm sicher sein. Zwar hätte er dann weniger singen können, aber man muss Prioritäten setzen. Und was die von ihm herbeigewünschte Klammer betrifft: In diesem Text gibt es genug davon; er hätte sich gern eine nehmen dürfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei