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Die WahrheitDer Zauber des Brechreizes

Gran Turismo von Belgien bis Zypern: alles über die schönsten Ziele im Ausland – für den Urlaub in bewegten Pandemie-Zeiten.

Illustration: Rattelschneck

Unumstritten ist Deutschland das beliebteste Urlaubsland der Deutschen. Nirgendwo auf der Welt ist der Deutsche so geil unter sich. Sogar Landschaft ist da: das Meer, die Berge, die Biere. Die Freizeitmöglichkeiten sind mannigfaltig in dem hochmodernen 56kbit/s-Grünflächenland: nächtliches Erlebnisshopping in Stuttgart – pünktlich zum Lockdown in Gütersloh.

Trotzdem zieht es die Deutschen im Sommer wie blöde in die Ferne. Doch Corona macht das Reisen heuer beschwerlich. Zwar sind die EU-Binnengrenzen offen, doch gilt bei Nachbars ganz anderes im Seuchenumgang. In Schweden etwa ist es unhöflich, eine Einladung zu zünftiger Herdenimmunität in der Sauna abzulehnen.

In Norditalien stoßen deutsche Entbehrungssagen aus harter Zeit („Im April nur mit einlagigem Klopapier gewischt“) auf Unverständnis. Welche Länder eignen sich also für einen pandemisch entspannten Urlaub und welches Coronareglement gilt dort? Eine sehr übersichtliche Übersicht der Wahrheit.

Belgien

Wenn schon nicht wegen seiner Lebensfreude, so doch wegen der außergewöhnlich hohen Zahl an Coronatoten gilt der depressive Borderline-Staat Belgien als Brasilien Europas. Insofern lässt sich die im Stil des misanthropischen Spätbrutalismus hinbetonierte Strandpromenade von Oostende zu Recht als europäische Copacabana feiern. Das scheintote kleine Land hat aus seinem medizinischen Notstand eine Tugend gemacht und seine Fremdenverkehrsindustrie auf Seuchentourismus umgestellt.

Belgien bietet Urlaub für wirklich alle Krankenstände: Resistente Kinder lädt der feine Sand der Kanalküste zwischen Knokke und De Panne zum Verscharren von Opa und Oma ein, während die siechen Eltern den Horizont nach der zweiten Welle absuchen. Brüssel prunkt gar mit einem vollkommen neuen Wahrzeichen: Nachdem am Atomium ein paar eiserne Moleküle weggeflext wurden, erhebt sich nun das prächtige Genom des Coronavirus als Landmarke über der Hauptstadt.

Frankreich

Eine Einreise nach Frankreich ist jederzeit möglich. Allerdings werden Touristen an der Grenze schmerzhaften und langwierigen Massentests unterzogen. Besonders unregelmäßige Verben und der verfluchte Subjonctif werden gnadenlos abgefragt. Frankophonie gilt der Grande Nation nicht nur als Ausweis kultureller Raffinesse, sondern als ausreichender Immunschutz. Gegen einen Molière, einen Balzac oder Houellebecq dürfte so ein primitiver Erreger nichts ausrichten können, dekretierte die Académie française, die den Franzosen den Professor Drosten ersetzt. Im Land selber muss der Tourist ein gelbes Erkennungswestchen („gilet jaune“) tragen. Dieses berechtigt ihn zu einer medizinischen Abreibung durch örtliche Gendarmeriekräfte.

Großbritannien

Das Königreich des weizenblonden Strubbelzwergs und der alten Muhme Windsor ist für Menschen aus Mittelerde bis auf Weiteres gesperrt. Von Tintagel bis Jorvik ist alles Land mit einem mächtigen Brexit-Zauber belegt, der bei den Kontinentalen furchtbaren Brechreiz erregt, auf dass ihnen sogar Covid-19 als harmlose Grippe erscheint. Selbst der Tunnel nach Calais ist zugeschüttet – mit den Milliarden, die das UK mit dem EU-Austritt angeblich spart. Das Geld hätte man natürlich auch ins staatliche Gesundheitssystem NHS investieren können, denn so hatte es der weizenblonde Strubbelzwerg versprochen. Doch ebendas verhindert ein uralter neoliberaler Fluch der Hexe Margaret Thatcher.

Island

Jener kleine Nordatlantik-Außenposten klopft sich gerade selbst auf die breite Schulter. Schlappe acht Covid-19-Fälle (Stand: 20. 6. 2020) im ganzen Land. Grund: Die apfelbäckigen Isländer haben ein gar mustergültiges Gemeinwesen mit einem gar mustergültigen Gesundheitssystem auf die Beine gestellt. Das wiederum hat nichts damit zu tun, dass ihre nur halbjährig beleuchtete Insel am kalten Arsch der Welt liegt, wo ohnehin niemand hinwill – nicht mal zum Infizieren.

Italien

Von Kreuzfahrtschiffen und Touristenströmen verlassen, verströmt Venedig ungewohntes Flair. In den Lagunen gondeln kaum noch Gondeln, doch tummeln sich Tümmler. In den Kanälen krakeelen die Makrelen. Auch die Einwohner zeigen sich erfreut. „Eigentlich wollten wir uns den Tourismus schon seit Jahren abgewöhnen“, seufzt ein Trattorienbesitzer, der schon mehrfach wegen einer Überdosis Devisen behandelt werden musste. „Aber das ist halt schwer, wenn du 30 Euro für den Espresso kassieren kannst.“ Damit ein Horden-Rückfall ausgeschlossen ist, sollen Maßnahmen zur Besuchervergrämung implementiert werden. Der Canal Grande wird in eine asphaltierte Schnellstraße umgewandelt, sämtliche Palazzi mit antipittoreskem Eternit verkleidet. Insgesamt will man sich am Stadtbild erfolgreich besucherbefreiter Metropolen wie Gladbeck oder Prypjat orientieren.

Rumänien

Deutsche Touristen werden von den Rumänen gerade besonders gastfreundlich empfangen. Hoch im Kurs steht der sportliche Cluburlaub. Eine windige Agentur vermittelt Erholungssuchende gegen horrende Gebühr an eigens eingerichtete Feriendörfer in unmittelbarer Nähe von Schlachtfabriken. Die Unterbringung erfolgt im Zwölfbettzimmer einer Schrottimmobilie mit Schimmelbefall. Doch wird der Tourist dort kaum Zeit verbringen, da der Abenteuerurlaub ein umfangreiches Animationsprogramm zur Akkordarbeit vorsieht. Aktivurlauber locken zehn- bis zwölfstündige Fun-Schichten an der Fleischsäge: auspowern nach Herzenslust! Sollte doch mal ein kleines Malheur (Amputation oder Corona-Infektion) passieren, kann der Gast absolut sicher sein, dass ihn medizinische Versorgung auf deutschem Niveau erwartet. Allerdings auf jenem Niveau, das man hierzulande für rumänische Vertragsarbeiter vorsieht.

Schweden

Bis Redaktionsschluss telefonisch niemand erreichbar. Ist der dortige Sonderweg somit gescheitert?

Spanien

In einem Feldversuch hatten einheimische Wissenschaftler jüngst 6.000 deutsche Touristen nach Mallorca ausfliegen lassen. Ziel des sorgfältig breit angelegten soziozoologischen Experiments war es, herauszufinden, ob man Touristen schon wieder unbeaufsichtigt über die Insel streunen lassen kann. Der ausgeprägte Geruchssinn führte das Gros der teutonischen Urlauber zwar zunächst in ihre angestammten Nistgebiete auf der Schinkenstraße, doch anschließend verlor sich ihre Spur. Erst drei Wochen später meldete Nordafrika den Einfall von Vandalenhorden, die unweit von Tanger ein Bierkönigreich nach Ballermannart zu errichten versuchten.

Zypern

Wegen anhaltender Gerüchte um russische Schwarzgeldkonten umweht den geteilten Inselstaat im Mittelmeer ein Hautgout von Korruption. Doch ausgerechnet Zypern hat nun ein Mittel gegen Covid-19 auf den Tisch gelegt (oder vielmehr: in einem Umschlag unter dem Tisch gereicht). Auf Zypern kann man sich ab sofort von Corona und den Folgen freikaufen.

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