Die Wahrheit: Vertrauens-Salsa ohne Socken

Weshalb bloß haben so viele Menschen Angst vor ihrem Vorgesetzten? Deshalb! Eine Horrorstory aus der Welt der Arbeit

Wenn das Monster von Chef es will, müssen alle Angestellten barfuß durch die Hölle gehen Foto: AP

Ticktack, ticktack, ticktack … Quälend zäh bewegte sich der Stechuhrzeiger in Richtung Dienstschluss. Also natürlich war es keine klassische Stechuhr, sondern eine App, und sie machte auch nicht ticktack – taten das Stechuhren überhaupt? Hatten sie je richtige Zeiger gehabt?

Mit solchen Gedanken versuchte Amelie sich abzulenken während der noch verbleibenden Zeit. Es war unangenehm hier im Serverraum, stickig, laut, vermutlich gab es auch Elektrosmog und Schadwellen. Doch all das waren kleinere Übel im Vergleich zur Alternative, zu einer Begegnung mit ihm … In diesem Kabuff, dem am wenigsten frequentierten Raum im Gebäude, war sie einigermaßen sicher. Vor dem Monster.

Wenn die App um siebzehnhundert Uhr das Signal zum Aufbruch geben würde, bräuchte sie exakt 42 Sekunden vom Serverraum über die Feuertreppe nach draußen und dann noch einmal zwölf Sekunden zu ihrem Wagen. Direkt im Anschluss würde sie wieder zu ihrer Selbsthilfegruppe fahren. Es war eine kluge Entscheidung, sich dort anzumelden, auch wenn die Scham am Anfang groß gewesen war.

Als sie vergangene Woche zufällig die Meldung gelesen hatte, konnte sie es kaum fassen. „Knapp die Hälfte der Beschäftigten hat Angst vor ihren Vorgesetzten“, hatte eine Umfrage des Deutschen Gewerkschaftsbundes ergeben. Streng genommen waren es 44 Prozent, wahrscheinlich hatte DGB-Chef Reiner Hoffmann seine Untergebenen gezwungen, den aufgerundeten Wert an die Presse zu geben.

Voller Selbsthilfegruppensaal

„Chef“ – schon bei dem Wort schüttelte es Amelie. Dass der Selbsthilfegruppensaal bis zum letzten Stuhl besetzt gewesen war, hatte ihren dräuenden Verdacht bestätigt: Ein Gespenst geht um im Kapitalismus, und es nennt sich wahlweise „CEO“, „Senior“, „Frau Abteilungsleiterin“, „Herr Direktor“ oder wie in ihrem Fall „der Pascal, du kannst mich aber auch Timbo nennen, frag nich – haha, das is ’ne irre Geschichte, na jedenfalls halten wir hier nichts von Titeln, du weißt schon, flache Hierarchien, alles gut, also wenn mal was ist, kannste mir direkt den ‚Consulting-Ball‘ zuwerfen, das ist dieser blaue Kooshball hier, und adde mich doch mal bei Insta, ich heiße ‚SoulFoodBigBoss87‘“. So hatte ER sich damals vorgestellt.

„Ich glaub, der ist ganz nett“, hatte sie ihren Freundinnen gesagt und damit den Pförtner gemeint. „Aber mein Projektleiter ist ein unerträgliches Ekelpaket.“ Beizeiten fand sie heraus, dass ihr Eindruck nicht trog. Die anderen, mit denen sie ins Gespräch kam, wussten Ungeheuerliches zu berichten. „Rette dich, solange du kannst“, raunten die Älteren ihr zu. „Wenn die Probezeit vorbei ist, bist du verloren.“ Das war vor drei Wochen.

Flache Hierarchien: „Also wenn mal was ist, kannste mir direkt den ‚Consulting-Ball‘ zuwerfen“

Auf dem Gang hörte sie Schritte. Sie konnte sich beruhigen: Das waren nicht seine Füße. Seine Fortbewegung war mehr tänzelnd, hüpfend, hin und wieder rollte er sogar auf einem Segway durch den Trakt. So was hatte sie auch schon von Leidensgenossinnen in der Therapie gehört. Konversationsbälle waren nur die Spitze des Eisbergs. Es gab Chefs, die Kalender mit Motivationssprüchen verteilten; andere verordneten Lehrgänge à la „Souveränes Auftreten mit der Maschmeyer-Methode“; machten Doodle-Umfragen für gemeinsames Dschungelcamp-Schauen; luden zu Teambuilding-Maßnahmen im Kletterpark ein; trugen Hugo Boss über ironischen Scherz-Shirts. Der Mitarbeiter eines früheren Finanzministers erzählte einmal vom „Emotional Support Animal“ seines Vorgesetzten: Er hielt sich ein tollwütiges indonesisches Bergwiesel.

Wuppende Sister

Noch 27 Minuten bis zum erlösenden Arbeitsende. Ihre Kollegen hatten ausrichten lassen, Amelie sei noch bei einem Außentermin, Pascal hatte es offenbar geschluckt. „Du wuppst das, sister“, hatte er sie via WhatsApp wissen lassen. „So sah ich bei meinem ersten Außeneinsatz aus“, darunter ein Gif, auf dem ein Minion aus der „Minions“-Reihe aufgeregt im Kreis rannte.

Apropos Film, schoss es ihr durch den Kopf, gab es nicht mal eine Komödie mit dem Titel „Kill the Boss“? Wäre das vielleicht die Ultima Ratio, um wieder in Frieden arbeiten zu können? Im Film schienen sie damit durchgekommen zu sein, immerhin gab es sogar eine Fortsetzung.

Amelie wollte gerade einen Aufsatz über Tyrannenmord googeln, an den sie sich aus dem Studium erinnerte, da ging plötzlich die Klinke. Flutschend öffnete sich die Tür und unbarmherziges Kunstlicht drang in den vermeintlichen Safe Space des Serverraums.

„Na sieh mal einer guck!“, hörte sie und ließ verzweifelt die Hand über den Boden gleiten, wohin sie vor Schreck ihr Handy fallen lassen hatte. Warum hatte sie ihn nicht gehört? Sie sah den Grund: Er trug keine Socken. „Ich hab mir was Neues überlegt: No Sock Week! Sieben Tage barfuß, macht Spaß und ist gesund. Alle machen mit, aber no pressure, alles kann, nix muss. Was machst du eigentlich hier drin, mal kurz das Näschen pudern, hehe? Kidding! Du, nachher ist Vertrauens-Salsa im Escape-Room. Oh, und noch was: Ich will nicht wieder den Captain Buzzkill raushängen lassen, aber ihr müsst wirklich die Pulpreste in den Pulp-Eimer schütten, wenn ihr euch Smoothies macht, da waren wieder welche im normalen Biomüll. Ich habe schon ein neues Meme dazu rumgeschickt …“

Amelie hörte schon lange nicht mehr hin. Blut lief ihr aus dem linken Ohr.

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