Die Wahrheit: Leibhaftig irreal
Der Übergang von so manchen Körperregionen zu immateriellen Kulturgütern gestaltet sich auch im Jahr 2017 äußerst interessant.
E s gibt oft zu denken, wie Teile des menschlichen Körpers miteinander Kontakt aufnehmen. Nehmen wir eine Anekdote aus dem Fußballgeschäft. Eintracht Braunschweig hatte zu Hause 1:1 gegen Erzgebirge Aue gespielt. In der Pressekonferenz geriet Braunschweigs Trainer Torsten Lieberknecht in Rage ob hämischer Fankommentare. Am Ende, polterte er, heiße es wieder, er sei durchgedreht, „aber das hat etwas mit Herz zu tun, dass man sich hier jeden Tag von morgens bis abends den Arsch aufreißt“.
Zu Lieberknechts Verknüpfung von Herz und Hintern tauchte bei mir zunächst ein Assoziationsgeflecht in Form eines Dreigestirns aus der Parfümerie auf: Basisnote, Herznote, Kopfnote. Passte gut, aber nicht perfekt. Dann erinnerte ich mich an eine spanische Formel, die drei Körperorgane vereint, davon ein männliches – cabeza, corazón, cojones.
Übersetzt in einen unebenen Stabreim: Hirn, Herz, Hoden. Die Tripel-Variante entstammt offenbar der Macho-Welt und möge jetzt bitte keine hanebüchene Debatte in den Geschlechterstudien auslösen, wie jüngst das Gedicht „avenidas“ von Eugen Gomringer. Es ist (noch) auf einer Fassade der Alice-Salomon-Hochschule zu sehen. Danke.
Das leibhaftige Kapitel ist hiermit abgeschlossen. Ich wage einen Übergang ins Nichtstoffliche, der eleganter kaum sein könnte – à la apropos. Das Stichwort „Erzgebirge“ (weiter oben im Text) mäandert uns nämlich zu der Nachricht, dass die „Montane Kulturlandschaft Erzgebirge“, die auf der „Tentativ-Liste“ steht, demnächst vielleicht in die Unesco-Welterbeliste eingetragen wird. Was uns zum nächsten Kasus katapultiert, der Hirn und Herz beschäftigt: Mich treibt die Welterbe-Idee um, genauer, das Nebenprojekt „Immaterielles Kulturerbe“.
Im Verzeichnis der deutschen Unesco-Abteilung finden wir derzeit dazu „68 Kulturformen“. Diese „Ausdrucksformen und ihre Träger stehen exemplarisch für die Kreativität und den Erfindergeist unserer Gesellschaft.“ Beim Durchblättern stelle ich fest, dass mein Alltag museal ist. Und immateriell. Ich nutze einige dieser Ausdrucksformen auf Schritt und Tritt. Morgens verlasse ich meine Wohnung („Genossenschaftsidee“), radle zum Bäcker („Deutsche Brotkultur“), danach zu meinem Schreibkontor („Märchen erzählen“). In der Büroküche koche ich mir literweise Tee („Ostfriesische Teekultur“).
Da der nächste Bühnenauftritt ansteht, greife ich zu meiner Ukulele, quäle drei Songs („Das instrumentale Laien- und Amateurmusizieren“). Einer davon ist Brechts Ballade von der Unzulänglichkeit („Singen der Lieder der deutschen Arbeiterbewegung“). Zwei Tage später, in der Sauna, trete ich nach einem Schwitzgang im Kaltwasserbecken rhythmisch auf der Stelle („Wissen und Praxis nach der Lehre Sebastian Kneipps“). Und des Abends treffe ich auf zwei Kumpels, einer hat Spielkarten mitgebracht („Skat spielen“).
Das Verzeichnis „soll von Jahr zu Jahr wachsen“. Und wir werden von Tag zu Tag immaterieller. Das kann ja heiter werden.
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