Die Wahrheit: Humor als Unterrichtsfach
Auf der Party zum 25-jährigen Jubiläum der Wahrheit in Berlin-Neukölln begegneten sich Sitzredakteure, Pointenzuträger und andere Komikfachleute.
Als ich am Freitagabend verspätet im Neuköllner „Heimathafen“ einlief, war die Wahrheit-Party zwar noch in Gang, aber alle Reden und Texte bereits hinausposaunt. Durch die Gänge schallte schrilles Gelächter, die Toiletten waren verstopft, draußen versuchten die Raucher ihre Stimmung zu halten, im Foyer fummelte Uli an den Reglern.
Auf die Wand hinter der Bühne wurden am laufenden Band Comics projiziert. Ein Pärchen vor mir stritt sich über deren Humorbegriff, sie ließen erst voneinander ab, als die Wahrheitkorrespondentin in Neuseeland über Skype dazugeschaltet wurde. Kein gemeiner Maoriwitz war ihr gut genug, dafür lud sie alle zu sich ein – wohl wissend, dass nur die Wenigsten von uns so weit kommen. An der Theke sonnten sich die Sitzredakteure im Halbkreis ihrer treuesten Pointenzuträger. Nach einigem Hawaiigelumpe geriet ich mit einem, der wohl genug von Höflichkeiten hatte, in Streit. Er hielt die Etikettierung der Satireseite als „Wahrheit“ und die „Gurke des Tages“ für geradezu genial, ich den Zustand davor, als Gurken auf allen taz-Seiten oder auf keiner stehen konnten.
Als seine Freundin zum Aufbruch drängte, gesellte ich mich zu vier ehemaligen Wahrheitkolumnisten, die um einen Tisch hockten und konzentriert Bier tranken. Es ging um weitere Vermarktungsmöglichkeiten für die ©Tom-Comics: Da sei – nach ©Tom-Tassen, -Spielkarten, -T-Shirts, -Bettzeug, -Puzzle und -Flaschenöffner noch Luft drin – und der taz-Shop sowieso „immer geil auf das Zeug“.
Von der Pipeline in den Papierkorb
Vermarktung ist leider meine schwache Seite, ich steuerte wieder die Theke an, wo sich inzwischen die Nassauer klumpten: Die meisten hatten die Wahrheit noch nie gelesen, geschweige denn etwas dafür geschrieben, bis auf einen, dessen Texte der Ressortleiter jedoch immer abgelehnt hatte, bis auf seinen letzten, der immer noch, „seit sieben Monaten“, in der „Pipeline bei denen“ steckte. Ich sah schon die nächste Auseinandersetzung kommen – mit dem Ressortleiter, denn in der Wahrheitredaktion bezeichnet man den Papierkorb als „Pipeline“.
Später kamen noch einige junge Leute: Die Wahrheitredakteure unterhalten ein ausgedehntes Schulungsprogramm in Satire – vornehmlich für Praktikanten im Pressewesen. Diese kamen mit Freikarten an. Es gibt Bestrebungen, den Wahrheit-Humor als Unterrichtsfach an den Journalistenschulen zu etablieren, aber das seien noch ungelegte Eier, beschwichtigte die stellvertretende Ressortleiterin, die diese Nachwuchsförderung am eifrigsten betreibt – mit bisher mäßigem Erfolg. Man kann sogar sagen, dass das Wahrheit-Gedrechsel der gedschänderten Generation zunehmend am Arsch vorbeigeht.
Über den etwas hilflosen Versuch des Ressortleiters, sie wenigstens noch über ihre Ohrstöpsel zu erreichen, indem er Wahrheitgedichte auf die Warteschleife der taz-Telefonzentrale spricht, liegen noch keine gesicherten Erkenntnisse vor. Nachgewiesen ist lediglich, dass die Mitarbeiter in der Telefonzentrale sich bei ihren ständigen Rauchpausen auf die Wahrheitredaktion berufen, die sie gebeten hätte, jeden Anrufer erst mal in Ruhe alle Gedichte anhören zu lassen.
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