Die Wahrheit: Das Gras der Angst
Auf der einen Insel als Mäher, auf der anderen als Begleiter: unterwegs als Mädchen für alles im Auftrag der albtraumhaften Wissenschaft.
E igentlich war ich auf der Insel, um die Wirkung des dort üppig wachsenden Grases auf die menschliche Psyche zu untersuchen. Das Projekt wurde für die Dauer von zwölf Monaten mit einem Stipendium gefördert. Nach Ablauf der Frist war eine mindestens 150-seitige Abhandlung vorzulegen, andernfalls musste die Stipendiumssumme komplett zurückgezahlt werden. Ein halbes Jahr war vergangen, und ich hatte noch nicht mehr geschafft, als den verheerenden psychotropen Effekt des Grases zu konstatieren. Es erzeugte – wohl durch Sporen verbreitete – Angst sowie den zwingenden Eindruck der Sinnlosigkeit jedweden menschlichen Tuns und Trachtens. Deshalb musste es dauernd gemäht werden.
Vor meinem Eintreffen auf der nur von vier Wissenschaftlern bewohnten Insel hatten jene das Mähen nachlässig betrieben und infolgedessen an entsprechenden Zuständen gelitten. Daraus hatte sich für mich die Notwendigkeit ergeben, vom ersten Tag an mit dem Rasenmäher die Ursache der Angst zu bekämpfen, damit überhaupt wieder geforscht werden konnte. Wegen seines schnellen Nachwachsens musste ich das Inselgras so oft mähen, dass man bald nur noch einen Gartenhelfer in mir sah. Von da war es dann nicht weit zum „Mädchen für alles“. Bald war meine Zeit ausgefüllt von diversen Instandhaltungs- und Reparaturarbeiten.
Wenn ich auch dringend mit meiner Studie über das Gras vorankommen musste, war es mir doch eine willkommene Abwechslung, als mich die Biologin Boehm einlud, sie zur Nachbarinsel zu begleiten. Als wir nach kurzer Fahrt aus dem Motorboot stiegen, sagte Frau Boehm: „Zuerst gehen wir zu der Hütte, die unsere Unterkunft sein wird.“ Mit ihrem Koffer an der Hand ging sie voran. Ich hoffte, diese Hütte werde groß genug für zwei Personen sein und ein Mindestmaß an Komfort bieten. Eine Viertelstunde lang suchten wir die nicht eben große Insel ab, ohne auf etwas auch nur entfernt Hüttenartiges zu stoßen.
„Seltsam“, meinte Boehm schließlich, „ich kann beschwören, dass es hier eine Hütte gab, die ich schon des Öfteren benutzt habe. Wir warten bis zum Abend. Wenn bis dahin die Hütte noch immer weg ist, fahren wir zurück.“
Wo sie eben stand, ließ sie ihren Koffer fallen, setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und schloss die Augen. Wenig später schlief sie. Und um ihr dabei zuzusehen, war ich mitgekommen? Wie gut hätte ich die vielen Stunden, die ich jetzt hier völlig sinnlos verlor, für meine schriftliche Abhandlung nutzen können! Auch musste das Gras auf der anderen Insel unbedingt wieder gemäht werden. Es war zum Wahnsinnigwerden.
Ich versuchte, mir die Zeit mit Hin- und Herlaufen zu vertreiben. Zahllose Male überquerte ich die Insel in alle möglichen Richtungen. Jedes Mal wenn ich zu Boehm zurückkam, schlief sie. Als es dunkel wurde, erwachte sie endlich. „Die Hütte ist nicht zurückgekehrt“, stellte sie fest. „Sehr enttäuschend. Dann hat es also keinen Zweck zu bleiben.“ Gut ausgeschlafen ergriff sie ihren Koffer und ging voran zum Motorboot.
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