Die Wahrheit: Rarer Urnengang
Politik der Zukunft: Ein paar alte Gedanken über Weihnachten bescheren uns neue Konzepte gegen die Wahlmüdigkeit.
Als Markus Schwarz aus der Wahlkabine tritt, sind alle Blicke auf ihn gerichtet: die seiner Familie, die der Wahlhelfer, die der Medienvertreter. Er steckt seinen Stimmzettel in die Wahlurne, sofort geht ein Blitzlichtgewitter nieder. Es sind Bilder, wie wir sie nur von der ersten freien gesamtdeutschen Wahl 1990 in Erinnerung haben, als Helmut Kohl in seinem Heimatdorf Oggersheim seine Stimme abgab.
Markus Schwarz lächelt in die Kameras. Er ist das Gesicht der Aktion „Die neue Wahlfreiheit“ der Initiative Demokratie e. V. Und er ist einer der letzten Deutschen, die noch wählen gehen. „Danke“, ruft er in den Raum, „vielen Dank fürs Kommen.“ Mit seiner Frau und der elfjährigen Tochter drängelt er sich durch den Pulk von Journalisten, Fotografen und Lokalpolitikern, die sich mit ihm ablichten lassen wollen. „Das war doch ein schöner Erfolg“, sagt er eine Viertelstunde später.
Wir haben uns in einem nahe gelegenen Café verabredet. Markus Schwarz und die Initiative Demokratie e. V. wollen Wahlen wieder attraktiver machen. Das Problem ist bekannt: Die Wahlbeteiligung sinkt von Mal zu Mal. Bei Bundestagswahlen ist sie verheerend, bei Landtagswahlen katastrophal und bei der Europawahl – Schwarz lacht bitter auf – „ist sie mit dem bloßen Auge gar nicht mehr wahrzunehmen. Wir müssen jetzt was tun. Nicht erst in vier Jahren.“
Seit der Anteil der Nichtwähler bereits die Mehrheit bildet, werden quer durch das Parteienspektrum Stimmen laut, eine Wahlpflicht einzuführen. In anderen Ländern habe man bereits gute Erfahrungen damit gemacht. „Im Ostblock vielleicht“, sagt Schwarz ächzend. „Stellen Sie sich vor, in Deutschland würden Wahlunwillige in Handschellen von der Polizei zur Wahlkabine gebracht. Nein, die Gründe liegen ganz woanders.“
Erst betrinken, dann wählen
Das beginne bei den Locations, fährt er fort. Wo wird gewählt? Im Seniorenheimen und Grundschulen. Wo es nach kalten Fischstäbchen riecht und manchmal auch nach Eingepullertem. Und in den Seniorenheimen sei es kaum besser. Da sitzen alte Menschen, die traurig darauf warteten, dass jemand mit ihnen spricht: die Wahlhelfer. Die Senioren vergnügen sich derweil beim Aquafitness. Und das Ganze heiße dann Wahllokal. Das Wort stamme aus einer Zeit, als die wenigen Wahlen zum Reichskanzler tatsächlich in Kneipen und Lokalen abgehalten wurden. Da konnte man sich dann entweder zuerst betrinken und dann wählen oder erst wählen und dann betrinken – je nachdem, welcher Partei man anhing.
„Schatzi“, wendet sich Markus Schwarz an seine Tochter, die neben ihm einen Kakao trinkt, „was ist wertvoller? Gold oder Eisen?“ – „Na, Gold“, sagt das Mädchen. „Und warum?“, fragt Schwarz. „Weil es so selten ist.“ „Genau. Sehen Sie. Sogar meine Tochter weiß das. Wir müssen die Ressource Wahl verknappen, damit sie im Wert wieder steigt. Wenn Wahlen wertvoller sind, gehen auch wieder mehr Menschen hin. Als Kind haben wir uns immer auf Weihnachten gefreut, weil uns so ein Jahr wahnsinnig lang vorkam und Weihnachten so selten war. Heutzutage denken wir schon zu Ostern: ‚O Gott, Weihnachten steht vor der Tür!‘, und haben schlechte Laune.
Alle Schulden auf einen Schlag tilgen
Also machen wir es wie mit Gold, Diamanten oder Weihnachten. Eine Wahl, die nur noch alle fünf Jahre statt alle vier Jahr stattfindet, ist um zwanzig Prozent seltener, also auch zwanzig Prozent kostbarer. Also gehen wieder mehr Menschen zur Wahl, wie Sie hier sehen.“
Markus Schwarz holt eine Grafik aus der Tasche, eine steile Exponentialkurve zeigt den Verlauf der erwarteten Wahlbeteiligung. „Bei einer Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf acht Jahre spart der Staat fünfzig Prozent der Kosten. Wieso also sollten wir alle vier Jahre einen Bundestag wählen, wenn alle acht Jahre auch reicht? Und bei jeder weiteren Verlängerung der Legislaturperiode steigen die Einsparungen ins Unermessliche. Schon bei einer Verschiebung der nächsten Bundestagswahl auf nie wieder könnte Deutschland alle Schulden auf einen Schlag tilgen. Soviel sollte uns die Demokratie wert sein!“
Niemand hat die Absicht, Wahlen abzuschaffen
Ein Plan, dem auch viele Politiker zustimmen. Bundestagspräsident Norbert Lammert meinte kürzlich, in Deutschland fänden „fast alle vierzehn Tage irgendwo Wahlen“, statt. „Weniger Wahlen“, sagt Schwarz, „heißt mehr Demokratie.“ Nachdenklich nickt er seinen Worten nach. „Wir haben schon viele Unterstützer aus allen Parteien. Einige wollen allerdings noch nicht genannt werden.“ Schwarz schüttelt den Kopf. „Niemand hat die Absicht, Wahlen abzuschaffen – das wäre ja undemokratisch.“ Dann steht er auf.
„So, wir müssen jetzt los“, kündigt er an. „Wir ziehen heute noch nach NRW, da sind bald Landtagswahlen, und ich muss mich rechtzeitig ummelden, damit ich mitwählen kann. Mit etwas Glück kriegen wir die Wahlbeteiligung über die Fünfprozenthürde.“ Wir drücken Markus Schwarz die Daumen. Ihm und der Demokratie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“