Die Wahrheit: Unbeschreibliches am Alten Markt
Wer mit jungen Menschen verkehrt, sollte sich seelsorgerischen Beistandes vergewissern. Aber auch dann geschieht oft Unerwartetes.
A n der Haltestelle Alter Markt entstieg ich der seltsamen Straßenbahn. Es war Samstagmittag, für mich eine ungewöhnliche Zeit, um in die Stadt zu fahren. Vorsichtig betrat ich den gepflasterten Boden der Verkehrsinsel. Mir war bewusst, dass hier früher alles vollkommen anders ausgesehen hatte und irgendwann wieder ganz anders aussehen würde. Zur Zeit lagen nirgendwo Trümmer. Viele Menschen mit und ohne Mäntel sah ich, alle trugen Schuhe, alle hatten Köpfe.
Es waren kaum fünfzig Meter bis zu der Snack-Bar, wo ich gewisse junge Leute treffen wollte, um ins Leben zu treten oder wenigstens einen Eindruck davon zu bekommen, wie junge Leute lebten. Im ersten Stockwerk eines Behelfsbaus traf ich sie, lauter Individuen mit Namen und Biografien. Ich hatte den Eindruck, wohlgelitten zu sein, und stellte fest, dass ich den Anforderungen gerecht wurde, solange ich nicht versuchte, junge Frauen zu beeindrucken. Einmal hatte ich im Beisein einiger junger Frauen etwas sehr gut gemacht und mich zur Belohnung schändlich betrunken. Der herbeigerufene Pfarrer hatte entschuldigend gesagt: „Die menschliche Seele verlangt nach glücklichen Stunden, da ist es nicht weit zur Drogensucht.“ Der herzensgute Mann! Er konnte täuschend echte Mädchen aus Morsezeichen machen. Meine ersten Mädchen waren daher Geschöpfe des Pfarrers gewesen und nicht etwa natürliche Wesen.
Es war eine schöne Zeit in der Snack-Bar, ich denke noch heute gern daran. Und diese Zeit verging rasant, im Handumdrehen war es draußen dunkel. Die jungen Leute, zu denen ich nun rechtmäßig gehörte, hatten am Abend noch etwas vor, woran ich, auf Maß und Proportion bedacht, mich jedoch nicht beteiligen wollte. Folglich schieden wir gut gelaunt voneinander und verabredeten ein Treffen in naher Zukunft.
Ich begab mich zwecks Heimreise zur Straßenbahnstation Alter Markt, die nun dermaßen in künstlicher Beleuchtung erstrahlte, dass sie ganz unbekannt aussah. Die Worte des Pfarrers kamen mir wieder in den Sinn: „Es ist die Art der Natur, uns zu betrügen.“ Unter dem mit großen Neonschriftzügen gekrönten Haltestellendach, das von fünf in einer Reihe stehenden, stalaktitenförmigen Säulen getragen wurde, war ich der einzige Wartende. Um mir die Zeit zu vertreiben, schlenderte ich zu dem kreisrunden Pavillon, der statt einer sechsten Säule am südlichen Ende des Daches stand. Dieser Pavillon enthielt einen noch geöffneten Tabakladen.
Selbst einem Nichtraucher wie mir tat sich beim Blick durch die Schaufensterscheiben eine faszinierende Welt auf, und das um so mehr an diesem Abend, da – wie ich frappiert erkennen musste – in dem engen Raum, inmitten all der so verlockend anzusehenden Genussartikel, eine für menschliche Begriffe ganz ungeheuerliche Szene stattfand. Ich kann sie leider nicht beschreiben, weil ich nach drei Sekunden ohnmächtig wurde und seit dem Erwachen von einer Amnesie davor beschützt werde, Schaden an meiner Seele zu nehmen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!