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Die WahrheitIrr im Rewirr

Kulturhauptstadt 2010 – Der selige Schwachsinn des Ruhrgebiets.

Prunktürme wie Juwelen in den Mülldeponien Bogotás. Bild: reuters

Es begann etwa 1990 mit der identitätsduselnden Plakatkampagne "Wir im Revier" und dem damaligen Dortmunder OB Samtlebe, der seinen grauen Häuserhauf als "Sport- und Schach-, Wissenschafts- und Wirtschaftszentrum", ja "EU-Metropole" imaginierte, um den zum Glück kleinen Hirninfarkt dann noch wie folgt ins Wort zu meißeln: "Die Menschen in Europa müssen das Gefühl haben, Beziehungen zu Dortmund zu besitzen."

"Müssen" stimmt. Die Menschen in Europa müssen sich nun nämlich täglich fragen, warum mit der vom Raubzug der Kohleindustrie misshandelten westdeutschen Großstadt Essen und deren gleichverwüsteten Nachbarn Duisburg, Bochum, Dortmund und so fort das gesamte Ruhrgebiet (werbedeutsch: Revier) zu ihrer aller Kulturhauptstadt befördert wurde. Ja, warum?

Weil die einst mitnominierte Altstadt Görlitz viel zu alt ist und viel weiter östlich liegt als Essen, diese "Rose an der Ruhr" mit ihren brikettbunten Mietskasernen und traumschönen Stadtautobahnen, da allseitig entwickelte Individuen, schillersch spielende Menschen und also Insignien erfüllten Lebens sich tummeln wie Juwelen in den Mülldeponien Bogotás, aber Spaß beiseite: Das Ruhrgebiet hats dreimal verdient! Schon dank seiner Lieder. Den Singeschrat Herbert Grönemeyer hielts bekanntlich nicht beim Film, und weil eines seiner Stücke davon handelt, dass er aus Bochum kommt, durfte er zum Fest nachlegen:

"KOMM ZUR RUHR. Wo ein rauhes Wort dich trägt, / weil dich hier kein Schaum erschlägt / wo man nicht dem Schein erliegt / weil man nur auf Sein was gibt … // Schnörkellos ballverliebt wetterfest und schlicht / geradeaus, warm, treu und laut / hier das Leben, da der Mensch, dicht an dicht / Jeder kommt für jeden auf, in Stahl gebaut … Dass der Rhein sich neu genießt / liegt an diesem Glücksgebiet / Alles fließt alles von hier … // … So weit, so ur / Seelenruhr. / Ich mein ja nur / Komm zur Ruhr

Klare offene Seelchen aus einem Glücksgebiet sind in Stahl gebaut, weswegen der Rhein sich neu genießt: Das ist mehr als wunderlicher Schwachsinn, nämlich offizielle Hymne der Kulturhaupstadt, verfasst und finanziert von Leuten, die nach all den Jahren nicht mehr anders können, als diese immergleichen Kitschbröckchen hervorzuwürgen: dass die Menschen des Ruhrgebiets menschlicher seien als die in Bremen oder Köln, weil sie, so das Mantra, "ihr Herz auf dem rechten Fleck" hätten. Schuld ist ein unschuldiger Nobelpreisträger. 1960 schrieb der Romancier Heinrich Böll den bis heute pausenlos zitierten Satz: "Das Beste am Ruhrgebiet sind seine Menschen." Nicht pausenlos zitiert wird seine Begründung: "Kein Bauwerk", schrieb Böll, "kein Haus, kein Landschaftsbild wird sichtbar, das Fremden eine Reise oder wenigstens eines Aufenthaltes wert erschien. Die Industrie hat eine Landschaft getötet, ohne eine neue zu bilden." So weit Böll.

Und keine Stadt ist wohl in Europa, welche die Epochen kontinentaler Architektur gleichmutig ignoriert.

Nicht Prunktürme je temporärer Gewinnler, sondern das betont grundehrliche Scheiß- als flächendeckendes Wohnhaus prägt das Stadtbild. Stolz schmiegt sich Brutalität der Frühindustrialisierung an Grausamkeit des Nachkriegs, Ekles der Betonjahre an die Beulen der Sanierungspest, Freches an Dummes, und wenn Moderne steht wie für den Verlust von Tünche, Tand und Schmuck, ist Essen in der Tat hackfleischgewordene Moderne.

Wobei sich Kultur auch hier nicht im Plebejischen erschöpft. Da ist die Krupp-"Villa Hügel" am Baldeneysee, da sind das Aalto-Opernhaus und das Essener Münster; da ist das Folkwang-Museum, neu verputzt mit Krupp-Millionen und damit Empfänger einer der vielen Ablasstüten jener Ruhrbarone, die ihre aberdicken Bäuche und Vermögen allein den hohlen Wangen und verstaubten Lungen ihrer Arbeiter verdanken - als wäre dies gesamte Kulturhauptstadtevent vorzüglich eine Gelegenheit für Diebe und schlimmere Strolche, ein bisschen was zurückzugeben etwa für die Bomben, die sie in Essen bauen ließen und die dank ihnen und Hitler dann auf Essen fielen …

Und da ist die profanere Aristokratie. Seit Jahrzehnten gilt Essen als weltweit einzige Kulturleistung mit C&A, Ansons, Wormland, Kaufhof, Karstadt, Peek & Cloppenburg, Hertie, dreimal H&M und 100 Nordeefilialen auf einem achtel Morgen, und stimmig also, dass die versehentliche Kulturhauptstadt sich kraft einer haushoch prangenden Bahnhofswerbung als "Die Einkaufsstadt", d. h. als prima Warenhaufen präsentiert. Denn wie schrieb Tucholsky: "Wer zwei Bücher hat, der mache eines zu Geld und kaufe sich eine Hose."

Doch zurück zur Hochkultur! Unvergessen der regelmäßige Triumph des Autors, wenn er nach Lesereisen in den Essener Bahnhof stieg und seinen Koffer voller unverkaufter Bücher gutgelaunt treppunter schleppte, weil alle sieben Bahnhofsrolltreppen von den 500.000 Essener Stahlmenschen mit dem rechten Herzfleck wieder einmal schnörkellos und schlicht in die Havarie geprügelt waren - was sollen sie auch sonst tun in diesem Glücksgebiet - dochdoch, mein altes Essen, es hats verdient! Gluckauf.

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15 Kommentare

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  • GH
    gerd herholz

    Darf ich mal ganz unbescheiden auf meine Sprachanalyse & Parodie der unsäglichen Gröni-Hymne aufmerksam machen? Findet man im 2010Lab unter

     

    www.2010lab.tv/blog/von-der-schwierigkeit-eine-hymne-herbert-grönemeyers-zu-parodieren-i

     

    Um mal Karl Kraus zu verballhornen:

    Je näher man eine Hymne ansieht, desto ferner schaut sie zurück.

  • D
    Daniel_D

    Herr Gsella ist in Essen geboren und hat über vierzig Jahre im Ruhrgebiet gelebt. Deswegen darf man ihm zumindest keine Inkompetenz unterstellen. Er weiß sicherlich genau über was er geschrieben hat.

  • HK
    hans kollekta

    ha!

     

    singschrat find ich gut.

    und das mit den bomben und essen kann man auch nicht oft genug sagen.

    das die enstehende ruhrstadt im werden begriffen ist auf einem vom manchesterkapitalismus vergewaltigtem grund -

    ja, aber genau das ist es ja!

     

     

     

    und!?

     

    sollen die menschen hier nun alle auf (big)apple umsteigen und wie das blatt und sein schreiberling sich geld zurecht pumpen, die segel streichen und geschäftig tun in einem kreuzberger szene cafe?

     

    ich ziehe es vor auf meine halde zu steigen und hinab zu blicken auf das unglaubliche land welches von museen, schauspielhäusern und konzertsäälen, von guten currywürsten und richtigem fußball mehr hat als andere zu brauchen scheinen.

     

    das der ruhrmensch mehr seele besitzt als andere, stimmt genau so wenig wie das die hamburger reserviert und die münchner reich wären. selbst das mit den unfreundlichen berlinern entspricht ja wohl nicht ausnahmslos der wahrheit?

     

    die kulturhauptstadt ist bislang übrigends ein riesen spass.

    und ihre wahre hymne(das bekommt man aus der ferne nicht so mit)kommt vom spardosen-terzett. sie hat den titel:

     

     

     

     

    glückauf dem ruhrgebiet!

  • DK
    Detlef Karsten Rohwedder

    Treffende Dekonstruktion eines weiteren Beispiels für zwanghafte und zugleich sinnentlehrte Versuche Identitifizierungsangebote zu stiften, um so der vermeintlichen Folter suggerierter Belangslosigkeit zu entkommen.

     

    Allein der Titel Kulturhauptstadt führt sich selbst ad absurdum, da der Begriff Kultur völlig unzutreffend mit einem Herrschaftsgebiet assoziiert wird. "Hauptstadt" legt einen hierarchischen Zusammenhang nahe, als ob von dort aus die "Kultur" verwaltet und ihre Ordnung gewährleistet werde.

     

    Verstehen kann ich, dass viele beim morgentlichen Blick in den Spiegel sich lieber still zurufen : "Du bist Deutschland!", als: "Du bist!". Meinetwegen auch: "Du bist Mensch!".

     

    Lachen kann ich darüber auch.

  • S
    Sven

    Die Ruhr2010 ist eine einzige Geldverbrennungsmaschine. Von Nachhaltigkeit für das geplagte Revier keine Spur. Eine der wenigen schönen Aktionen sind die UNPROJEKTE 2010. Dort haben Projekte ein Forum bekommen, die von den Organisatoren der Kulturhauptstadt abgelehnt wurden.

  • T
    Täubchen

    Das Ruhrgebiet braucht dringend einen Imagewandel - den hat es verdient! Es gibt sehr viel zu entdecken und zu erleben - auch wenn Schönes und Hässliches nach wie vor sehr eng beieinander liegen. Die "Metropolregion" ins positive Licht zu rücken, ist das beste, was passieren konnte. Schade, dass viele Leute immer noch nicht bereit sind, ihre Vorurteile zu hinterfragen. Warum, Herr Gsella, fahren Sie nicht mal dort hin und treffen sich mit Menschen, die dort wirklich gerne leben? Nach 7 Jahren Hamburg denke ich darüber nach, wieder zurück nach Essen zu gehen! Und ja, die Menschen dort sind in der Tat "anders": Direkter, aufgeschlossener und viel, viel kommunikativer als z.B. die reservierten Hamburger.

  • D
    Dörper

    Jawollo! Voll ins Schwarze...

  • B
    blindschleiche

    hast ja recht, guter thommy, wenn du hier deine persönliche vergangenheit bewältigst. über vieles möchte ich mit dir diskutieren. egal, ob öffentlich im grent oder intimer irgendwo an der rü (z. b. oliv).

     

    gib ruhig zu, dass du dich hier bei deinen wurzeln wohler fühlst als anderswo.

     

    nöcht?!

    mit fröhlichem schluckauf!

    w.s.

  • O
    Oberhausener

    Um es mit Frank Goosen sein Oppa zu halten:

    "Woanders ist auch scheiße!"

     

     

    "Wir helfen den Leuten ihren Begriff von Schönheit zu erweitern. Eine mittelalterliche Garnisionsstadt schönfinden kann jeder. Aber auf dem Gasometer in Oberhausen stehen und sagen `kehr watt ne geile Gegend´, datt muss man wollen!"

  • JM
    Jörg Metzger

    *grins* - ganz witzig geschrieben. Ich bin von Berlin nach Essen gezogen und kann mir daher ein Urteil erlauben - viell mehr als der Verfasser. Aber etwas zuviel Häme oder ?

    Immerhin; es ist trotzdem ein lebenswertes Fleckchen Erde die ich nie mit irgendwas in Süddeutschland tauschen würde. Und so häßlich ist es auch garnicht -wenn man nicht danach sucht (aber dann fällt mir in Berlin ebensoviel ein, echt)

     

    P.S das Folkwang Museum wurde nicht neu geputzt und Dortmund und Essen haben fast 600.000 Einwohner

     

    aber das ist sicher künstlerische Freiheit

  • B
    bengel2

    Ah ja, der literarisch nahezu überbegabte Herr Gsella durfte natürlich im Kulturjahr nicht fehlen.

     

    Ich habe mich schon früher, als er noch für das Bochumer "guckloch" seinen Griffel spitzte, immer gefragt, warum sich das ansonsten recht prima gemachte Szene-Magazin einen solch hölzernen Metaphern-Samurai leistet.

     

    Einem F. Küppersbusch kann und sollte er das Wasser nicht reichen.

  • K
    Karim

    Wenn man liest, was die taz sonst so zum Thema Ruhrgebiet dahinrotzt, dann kann einem bei diesem Artikel eigentlich nur die Halsschlagader anschwillen. Denn wenn in der taz alle 500 Jahre einmal ein ernsthafter Artikel zum Revier erscheint, dann lässt dieser kein gutes Haar an der Region und zeichnet eben dieses Schreckensbild, welches auch der obige Artikel suggeriert und bedient dabei alle Klischees. Insofern f***t das Ruhrgebiet als Kulturhauptstadt die taz in ihrem "arm-aber-sexy-Berlin" ziemlich in den Allerwertesten. Denn tatsächlich ist der Ruf um ein Vielfaches schlechter als die Realität (und man merkt immer wieder gut, dass kaum ein taz-Redakteur jemals wirklich im Revier war).

     

    Ich kenne keinen derart großen Ballungsraum in Europa, in dem es sich so gut leben lässt und kann es besonders jungen Menschen nur empfehlen hier fürs Studium oder den Beruf die Zelte aufzuschlagen: Ein Haufen toller Wohnraum zu Schleuderpreisen, immer günstig essen gehen, Bildungsangebote (insg. 4 große Unis plus zahlreiche FHs) en masse, jeden Tag tolle Konzerte und andere Events, im Sommer alle zwei Wochen große Kulturfestivals (z.B. Extraschicht oder Museumsnacht), viele große Sportvereine, mehr als 200 Museen, Kinos an jeder Ecke, super Einkaufsmöglichkeiten (fünf große Einkaufszentren plus Fußgängerzonen der Städte), unzählige Grünflächen (ja, auch das gibt es hier; Grünflächenanteil Dortmunds ca. 50 %), vier große Zoos, Freizeitparks, Diskotheken und so weiter und so fort. Auch die Architektur der großen Städte im Ruhrgebiet wird mit dem Strukturwandel immer ansehnlicher, schafft es aber dennoch die eigene Identität zu wahren und daraus etwas Neues zu kreieren. Ich frage, wo bekommt man das zu solchen Preisen? Und auch Arbeit findet man zumindest in Dortmund mit ordentlicher Ausbildung, vor allem im Bereich der Informatik oder Naturwissenschaften. Das heißt, wer als junger Mensch hierhin kommt, sich ordentlich bildet und die Region kennen und lieben lernt, wird hier mit Sicherheit sein Glück finden oder fürs Studium zumindest einige schöne Jahre verbringen.

     

    Wer zuletzt lacht, lacht am Besten, liebe Taz... (Wer das gesagt hat, weiß ich als dummer Ruhri grad leider nicht)

  • D
    Dortmunder

    Man hätte bei dem Autor je eine bissige Satire erwarten können/müssen. Aber dieses dümmliche Gesabbel, ohne jede Kenntnis der Gegensätze (traumhafte Gegenden - ghettoartige Viertel) und damit auch der Schönheit und auch kulturellen Schaffenskraft des Ruhrgebiets ist eine echte Zumutung.

  • R
    Ruhrgebietler

    Schwachfug.

  • LR
    Lokalpatriotischer Ruhrgebietler

    Ich dachte, das Konzept dieser "Die Wahrheit"-Kolumne sei, dass da normalerweise realitätsferne Albereien drin stehen?

    Das hier ist leider, leider - jedenfalls weitestgehend - die Wahrheit.

    Besonders peinlich ist dann noch der prawda-artige Applaus, den das ganze in den lokalen Presseorganen der WAZ-Gruppe erhält.

    Gegen Ende des Kalenderjahres wird es dann sicherlich dort und anderswo noch ein ein paar hübsche Artikelchen geben, wie wunderbar alles gelungen ist, wie beeindruckt die Kulturbeflissenen aus ganz Europa waren, dass das Ruhrgebiet so ganz anders ist als sein Ruf, und wie fulminant es das unter Beweis gestellt hat ... gäääähn!

     

    ... und irgendwie wird man das Gefühl nicht los werden, dass all die Jubel-Artikel, die eine durchweg positive Bilanz ziehen werden, bereits heute (wenn nicht schon seit Monaten) fertig geschrieben in irgendwelchen Schubladen bzw. auf irgendwelchen Festplatten auf ihren Einsatz warten.