piwik no script img

Die WahrheitDie Anziehungskraft der Anden

Eine beschwerliche Expedition wie diese hatte ich noch nie unternommen, geschweige denn eine in solche Ferne.

Der Entschluss, sie zu wagen, glich einem Befreiungsschlag, deren Anlass ich geflissentlich verschweige. Die verkündete Version lautete, ich wolle eine Reisereportage verfassen sowie ein Porträt des Autors A., der jedes Jahr für einige Monate in den kolumbianischen Anden lebt, in einer Hütte 2.300 Meter über dem Meeresspiegel, unweit des Äquators. Jahrein, jahraus wandert das Thermometer von 9 Grad in der Früh bis 24 Grad mittags und retour auf 12 Grad des Nachts; jahrein, jahraus "hat hier das Grün der Wiesen und Bäume alle möglichen Farben".

Magische Anziehungskraft hatte ein Essay von A. heraufbeschworen, der so eröffnete: "Ich habe keine Phantasie, ich habe ein schlechtes Gedächtnis. Ich schreibe mit Hilfe meiner Erinnerungen, aber da ich ein sehr, sehr schlechtes Gedächtnis habe, gebe ich beim Erzählen keine Tatsachen wieder, sondern eine verzerrte Darstellung dessen, was geschehen ist."

Unwillkürlich dachte ich: "ein Bruder im Geiste", ein Ausdruck, den ich, wie zu erwarten, für hausbacken hielt. Statt um eine Korrektur zu ringen, plante ich mithilfe des Reisebüros ums Eck den Flug nach Bogotà. Und brach auf.

Nun hatte mich also ein belastungsfähiges Maultier empor geschleppt bis zur Hütte. Ich klopfte an die Tür. A. empfing mich rechtschaffen reserviert, aus gutem Grunde, da ich mich erst zwei Tage zuvor per E-Mail angekündigt hatte. Und doch, nach höflichem Geplänkel, schilderte mir A. ein Vorhaben. Um einen Nebenfluss des mäandernden Zeitstroms auszubaggern, entsann er sich einiger Bücher, die er gelesen oder durchblättert und deren Titel zu seiner größten Verwunderung das Gedächtnis verwahrt hatte. Verknüpft miteinander mochten sie eine von zahllosen Fährten in die Vergangenheit erhellen, ob triftig oder nicht, sei gehupft wie gesprungen.

Kurz nacheinander hatte der junge A. "Die Stunde des Todes", einen Roman von Herbert Achternbusch, gelesen, Oskar Maria Grafs Autobiographie "Wir sind Gefangene" und Peter Handkes Erzählung "Wunschloses Unglück". Diesem eh düster anmutenden Eröffnungsakkord folgten F. K. Waechters Band "Männer auf verlorenem Posten" und Jean Paul Sartres "Der Idiot der Familie" (ungelesen).

"Puh", sagte der naseweise Bär in mir, indes A. die Kollektion vervollständigte, mit dem "Kapital" von Marx sowie einem Roman von Jim Dodge: "Die Kunst des Verschwindens".

Mittlerweile waren die zwölf Stunden Dunkelheit angebrochen, die hierorts stets und ständig mit zwölf Stunden Helligkeit wechseln. Weniger des Platzmangels wegen breche ich gleichfalls ab, sondern weil sich die Aufzeichnungen für die Reportage in Gestricheltes auflöste. Meine gesamten stenographierten Notizen sind nicht zu entziffern. Es blieb das Schattenspiel einiger Worte samt der Ungewissheit, ob das, was ich gerade geschrieben habe, eine Erinnerung, ein Wunsch, eine Erfindung oder eine Hommage ist.

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!