Die Wahrheit: Breitensport Stalking
Phänomene des Alltags: Verfolgungen und Belästigungen aller Art.
Der Stalker, das war einmal im Sozialismus ein kundiger Führer durch Zonen der Anomalie (Andrei Tarkowski). Im Neoliberalismus ist es genau umgekehrt. Da anomalisiert der Stalker die Zonen der Privatsphäre: Er überschreitet eine imaginäre Grenze - er nervt, peinigt, bedroht. Anfangs Reiche und Prominente, vor allem Filmstars, aber nun kann es - dank des 2007 aus Hollywood übernommenen Anti-Stalking-Paragrafen - jeden treffen. Vor allem werden Frauen von Stalkern belästigt und eingeschüchtert. Es gibt bereits zwei Vereine - einen für die Opfer, einen für die Täter. Sie werden flankiert von immer mehr "Stalking-Experten" der Polizei.
Aber das betrifft alles nur das Stalking von unten, daneben breitet sich auch noch das Stalking von oben aus. So werden etwa vor den Finanzgerichten neun von zehn Fällen gegen den Bürger entschieden - früher war das Verhältnis umgekehrt. Und das Risiko, von "Bullen" kontrolliert zu werden, erhöht sich ständig, besonders für Schwarzköpfe und Dunkelhäutige, die das dann auch als staatliches Stalking begreifen.
Ebenso kommt es immer öfter zu "Organized Stalking" gegenüber Personen, die sich mit einem Konzern oder Teilen einer Regierung angelegt haben: So arbeitet beispielsweise der deutsche Energiekonzern E.ON in Großbritannien mit Daten über Umweltschutzaktivisten, die von Polizeispitzeln stammen.
Es gibt Stalking von …
Aber auch die Stalker von unten werden immer fieser: Es werden zunehmend Fälle von "Elektronic Stalking" registriert, wo modernste Consumer-Technik zum Einsatz kommt, daneben aber auch das "Gang Stalking" - von Verbrecherbanden in Problembezirken (Ghettos/Favelas/Slums). Sie stellen von unten das Pendant zum "Organized Stalking" von oben dar. Diese Form des Stalkings ist so verbreitet und schon fast legal, dass auch der "Gang Stalking Stress" inzwischen eine anerkannte Krankheit ist. Sie betrifft meist Opfer von "Community-based Multistalking".
Aus Hollywood - der Stadt der "Stars zum Anfassen" - kommt nun der neueste Schrei: Eine "Anti-Stalking-Unit" des Los Angeles Police-Departments mit eigenem Profiler: "Wir beheben die Kollateralschäden der Star-Industrie." Dass dort jeder halbwegs Reiche oder Berühmte Bodyguards hat, reicht nicht mehr. Die Gründung der "Anti-Stalking"-Truppe geht auf die "Stalking-Queen" Rhonda Saunders zurück, eine Staatsanwältin, die 1991 das weltweit erste Anti-Stalking-Gesetz in Kalifornien durchsetzte. "Heute können wir schon wegsperren, wenn jemand sich durch seinen Verfolger bedroht fühlt", sagt sie stolz. Das geht dann so vor sich: Die Antistalking-Bullen lassen ihr Zielobjekt - den notorischen Verfolger eines Stars - möglichst viele Straftaten begehen, bevor sie ihn schnappen, damit er eine hohe Gefängnisstrafe bekommt.
Die Stalker sind ausnahmsweise die Opfer in diesem Spiel - der US-Unterhaltungsindustrie, der Boulevard- und Fachpresse sowie auch der Bullen vom Fach. Und die Gestalkten (Celebrities) sind die eigentlichen Täter. Das wird schon dadurch deutlich, dass es auch immer mehr "Fake-Stalking" gibt. Der Chefermittler der "Anti-Stalking-Unit" drückt es so aus: "In Hollywood hast du es erst geschafft, wenn du einen Stalker hattest, das kostet uns viel Zeit." Soll heißen: Wer berühmt werden will, zahlt, damit er gestalkt wird. Besonders Ehrgeizige leisten sich ein ausgeklügeltes "Multistalking". Dazu gründen sich immer mehr Agenturen in und um Hollywood - mit zum Teil ausgeklügelten "Stalking-Programmen".
Ihnen entgegen kommen Boulevardzeitungen, wie etwa die Westberliner B.Z., die ihren ganzen Ehrgeiz daran setzen, die Übernachtungs- und Ausgehadressen von Promis zu veröffentlichen: eine Art Stadtführer für Stalker mit täglichem Updating. Ihre Paparazzi gelten als "Stalking-Vorhut". Und dann gibt es noch all die Restaurants von Kalifornien bis London, bei denen man an bestimmten Tagen, wenn dieser oder jener Prominente bei ihnen einkehrt, für gutes Geld, aber "ohne Gewähr", einen Tisch reservieren kann.
… unten und von oben
In immer mehr Städten wird das "Fake-Stalking", eine Weiterentwicklung des "Claqueurs", zu einem Nebenverdienst für Studenten und Hartz-IVler. Längst besteht ein Teil des Publikums in den Proll-Talkshows aus "Fake-Stalkern" - bezahlt vom Sender.
Es gibt daneben aber auch immer mehr Selbstverdiener unter den "Stalkern": Straßenmusiker, Rosen- und Zeitungsverkäufer, fliegende Händler, Bettler und Handleserinnen. Die gegen sie gerichtete selbsternannte "Anti-Stalking-Unit" nennt man hierzulande (noch) "Neonazis". Von den Stalkern aus Armut unterscheiden sich die "Kollektiv-Stalker", das sind Künstlergruppen wie "Yes Man", die Alltagssituationen inszenieren.
Schließlich gibt es noch die "Scheiß-Stalker" - so nennen Proll-Tussies und ihre Lover alle alten Säcke, also alle über 30, die ihnen nachkucken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Auf dem Rücken der Beschäftigten