Die Wahrheit: Ein Jahr im selben Körper
Schick unter Journalisten und Schriftstellern ist ja neuerdings der Selbstversuch. Es kann gar nicht absurd genug sein:
... aufs Land ziehen, Vegetarier werden, das Internet verschrotten, immer dasselbe Kleid anziehen - und es hinterher verschrotten. Rausspringen muss dabei mindestens eine Doppelseite in einem Hochglanzmagazin, oder besser noch: ein Buch! Das Experiment Ich im Ewigkeitsformat. Für die Enkel. Schaut, hier hat Opa darüber geschrieben, wie er ein Jahr lang seine Socken nicht wechselte.
In die Wahrheit, wie ein mir bekanntes Kind einst formulierte, in die Wahrheit bin ich nur ekelhaft neidisch. Ich nämlich bin schon vor mehr als einem Jahrzehnt aufs Land gezogen und habe damals versäumt, meine berufsbedingte Umsiedlung als persönlichkeitsfördernde, turbobedeutsame Verzichts-Veranstaltung auszugeben. Leider habe ich kein Tagebuch geführt, in dem stand: "3. Februar. Kuh gesehen. Tief empfunden."
Stattdessen habe ich herumgejault, dass es in meiner Umgebung zu wenig Kinos und zu viel Freiwillige Feuerwehr gibt. (Falls mein Haus irgendwann brennen sollte, denke ich über Letzteres noch mal nach.) Und jetzt? Ich ahne schon, dass ich für "15 Jahre Niedersachsen. Ein Selbstversuch" wieder keinen Verleger begeistern kann. Obwohl sich bestimmt ein Rezensent fände, der dem ganzen Unternehmen und seiner Autorin großen Mut bescheinigen würde. Ich selbst könnte mich allerdings erst den Heldinnen der Wirklichkeit zurechnen, wenn es hieße: "15 Jahre Niedersachsen ohne Internet, und dann geht auch noch der Fernseher kaputt."
Übrigens steht Fleischverzicht schon länger auf unserem Familienprogramm. Und wieder habe ich den Zeitpunkt verpasst, "Kuh gesehen. Tief empfunden" der Welt mitzuteilen. Alternativ hätte ich zwar noch "Spareribs gerochen. Reingebissen" anzubieten, aber dem würzigen Duft des gebratenen Fleisches ist einfach keine Aura des Verzichts abzutrotzen.
Ein Jahr im selben Kleid? Wie öde. Ich könnte "Ein Jahr im selben Neid" schreiben. Oder noch besser: "Ein Jahr im selben Körper". Stellen Sie sich das mal vor, 365 Tage im Jahr morgens aufwachen und immer noch derselbe alte Madensack sein. Das ist radikal! Und total langweilig!
Allerdings verzichtet man dabei nicht genug, denn darum geht es ja eigentlich: Als moralisch höherstehend wird derjenige angesehen, der Dinge verschmäht, die er haben könnte. Teure und wichtige Dinge. Ein Jahr ohne Auto schlägt ein Jahr ohne Eierschneider. Schon unter dem Weltrettungsaspekt erscheint das zweite Thema bedauerlich irrelevant. Sechs Wochen ohne Internet sind besser als sechs Wochen ohne Vernichtungskrieg, auch wenn das erstmal widersinnig klingt. Denn nur das Erste lässt den Leser bangen: Wie hält der das aus? Hielte ich das aus?
Für mein nächstes Buch habe ich deshalb ein ganz frisches Thema aufgetan. Weltrettung und Selbstverleugnung at its best: "Ein Jahr bei der Freiwilligen Feuerwehr". Den ersten Satz habe ich schon: "Hydrant gesehen. Tief empfunden."
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